Kapitel 1

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Es war ein windiger Tag als Bruno beschloss, dass es Zeit für einen Spaziergang war. Seine Schwester Pepa war etwas durch den Wind, weshalb auch sein Poncho um seine Arme und Knöchel wirbelte als er aus der familiären Casita trat. Soweit Bruno es mitbekommen hatte, war Pepa so aus dem Häuschen, weil ein junger Bursche namens Félix Marin ihr ein Lächeln geschenkt hatte.

Julieta, Brunos andere Schwester, versuchte sie zu beruhigen, weil sie befürchtete, dass der Wind eventuell zu einem kleinen Sturm ausarten könnte. Um ehrlich zu sein war Julieta nicht die Einzige, die das befürchtete, denn Alma, Brunos Mamá, hatte immer wieder besorgt zum Himmel gesehen, während Pepa sich im Hintergrund gar nicht mehr in den Griff bekam.

Bruno wusste nicht, was er machen sollte. Julieta brauchte seine Hilfe nicht, sie war voll und ganz auf Pepa konzentriert und würde es gar nicht schätzen, wenn ihr jemand in die Quere kam. Außerdem schoss es Bruno gerade durch den Kopf, dass es auch passieren könnte, dass Pepa auf die Idee kam, dass Bruno ihr doch die Zukunft voraussagen könnte, um herauszufinden, welche Rolle dieser Félix in ihrem Leben spielen würde. Aber bei Brunos Glück wäre es wohl kaum eine berauschende Aussicht und dann wäre Pepas Laune im Keller und ein Hurrikan würde die nächsten Tage lang über Encanto wüten.
Nein, es wäre besser, wenn Bruno sich die nächsten Stunden nicht im Haus aufhielt.

Trotz des Windes schien die Sonne hell über das Dorf. Bruno konnte die vielen Bewohner sehen, die ihrem Leben nachgingen. Er mochte den Anblick, den das Dorf gab; es sah so friedlich aus, so wunderschön. Er konnte keine Worte finden, um die Schönheit von Encanto zu beschreiben.

Als er ankam, wurde er von den Bewohnern begrüßt, wenn auch ein wenig steif. Er ließ sich nichts anmerken, aber innerlich hinterließ es schon seine Spuren. Mamá hatte Bruno und seinen Schwestern schon mit der Milch eingeflößt, dass sie ihre Gaben für das Wohl aller verwenden sollen, was sie auch seit ihrem fünften Lebensjahr taten – nun, vielleicht auch nicht so früh, denn sie mussten ja selbst auch erstmal ihre Gaben ergründen und sich an sie gewöhnen. Die Drillinge der Madrigals hatten nämlich nicht sehr einfache Gaben bekommen; Pepa, die das Wetter nach ihren Launen steuern konnte, hatte große Schwierigkeiten damit, ihre Gefühle zu kontrollieren. Sie musste stets die Fassung wahren und durfte nie zusammenbrechen, denn ansonsten könnte es zu einer riesigen Flut oder einem gewaltigen Gewitter kommen.
Julieta, die Verletzungen durch ihr zubereitetes Essen heilen konnte, war eine ganze Weile davon überzeugt gewesen, dass sie gar keine Gabe verliehen bekommen hatte. Erst als sie Mamá in der Küche half und Bruno mit einem blutenden Finger in die Küche kam, wurde sie sich dessen bewusst. Bruno wollte sich mit einigen Ratten anfreunden, aber er war ihnen noch fremd, weshalb sie nicht so offen und freundlich reagierten, wie er sich erhofft hatte. Stattdessen hatte eine von ihnen zugebissen. Als Julieta Brunos Wunde sah, wollte sie ihn mit einem Stück ihres selbstgebackenen Brotes trösten, doch zur Verwunderung aller verheilte Brunos blutender Finger vollkommen.
Bruno, der in die Zukunft blicken konnte, war selbst gar nicht auf die Art seiner Gabe gekommen. Es war Julieta gewesen, die den Hinweis gab, denn sie hatte die Verzierungen von Brunos Tür bemerkt; sie hatte das Sandglas gesehen. Mamá wusste sofort, dass es sich um ein Zeitglas handeln musste und von diesem Tag an versuchte sie alles, um Brunos Fähigkeit zum Vorschein zu bringen, bis es ihr schließlich gelang und Bruno seine kleine Auseinandersetzung mit den bereits erwähnten Ratten sah.

„Bruno!", rief ihn plötzlich jemand und Bruno schreckte hoch. „Ja?", fragte er unsicher.

„Weißt du, wann Pepa runterkommen wird? Die Felder müssen gegossen werden und ich glaube, wir wissen jetzt, wie man ihre Laune perfekt anpasst.", sagte Andres, ein Bauer Encantos.

„Ich – ähm – bin mir da gar nicht so sicher", meinte Bruno. „Sie fühlt sich im Augenblick nicht so gut."

Andres sah hoch zum wolkenlosen Himmel. „Sieht aber gar nicht so aus.", murmelte er.

„Ja, aber spürst du nicht den Wind? Sie versucht ihn unter Kontrolle zu halten.", verteidigte Bruno seine Schwester. Er mochte es nicht, wenn man die Gefühlslage seiner Schwester in Frage stellte, nur weil sich das Wetter dementsprechend noch nicht angepasst hatte. Schließlich hatte sie all die Jahre lang alles daran getan, dass man solche Aussetzer nicht bemerkte.

Ich sehe dich, BrunoWhere stories live. Discover now