Kapitel 8

416 32 6
                                    

Seltsamerweise schien es den Madrigals nicht aufzufallen, dass Bruno immer wieder für Stunden verschwand, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Verschwinden ist vielleicht ein bisschen übertrieben, schließlich befand er sich nur in der Wand, aber dennoch haben weder seine Schwestern noch seine Mamá seine Abwesenheit hinterfragt.

Bruno beschäftigte sich mit dieser Tatsache nicht gerade oft, er war es schon gewöhnt, dass er sogar für Wochen gehen könnte und kaum einer würde es merken. Jedenfalls dachte er das, denn natürlich bemerkte seine Familie das er nicht da war, sie sagten nur nichts.

Aber er selbst war auch viel zu beschäftigt, um sich darüber Sorgen machen zu können. Er hatte sich vorgenommen, dass er über das Loch eine Brücke bauen würde, damit Lucia ohne Angst darüber gehen konnte. Die ganze Nacht hatte er wach gelegen und mit seinen Ratten darüber nachgedacht. Er hatte kleine Modelle aus Streichhölzern und Fäden gebaut, wo er dann Amigo hat rübergehen lassen, um zu sehen, wie genau er das anstellen musste.

Jetzt hatte er ein ganz gutes Bild vor sich. Er war nochmal zurück in das Zimmer gegangen und hatte dort sogar einen Hammer und Nägel gefunden, was ihm mehr als nützlich vorkam. Von da an zögerte er keine Sekunde.

Die Bretter, die er beim ersten Besuch dort hingelegt hatte, machten noch immer einen guten Job, weshalb Bruno sie einfach weiterverwendete. Er beschloss, dass er die Enden auf dem Boden festnageln würde, um sie vom hin und her rutschen abzuhalten. Und das gelang ihm auch tatsächlich, ohne dass er sich aus Versehen selbst annagelte.

Danach beschloss er, dass er die Brücke breiter machen müsste, schließlich werden sie auch mal große Sachen darüber tragen müssen, ohne dass sie runterfallen. Also befestigte er zwei weitere Bretter pro Seite auf dieselbe Art und Weise und ging probehalber nochmal drüber. Alles hielt perfekt.

Sich am Kopf kratzend stand Bruno dann vor seinem Werk und überlegte, wie er am besten ein Geländer bauen sollte. Bei seinem Modell hatte mit Fäden ein Art schwebendes Geländer gebastelt, aber wenn er sich jetzt so umsah, war dies wohl nicht so einfach umzusetzen. Er drehte sich um und besah die Sachen, die er mitgebracht hatte. Es waren noch zwei lange Balken, die er ursprünglich für das Geländer verwenden wollte, was er auch noch immer vorhatte, aber er musste jetzt nur noch zwei stabile Äste finden, die er als Stützen für die Balken nehmen konnte.

Er seufzte. Ob er nun wollte oder nicht, er musste raus und im Wald danach suchen. Er legte das Werkzeug zur Seite und ging zurück zum Eingang. Vorsichtig kletterte er hoch – wenn er danach noch Zeit hatte, musste er wohl oder übel auch eine Art Rampe bauen, damit sie nicht immer die Leiter verwenden mussten – und lugte um die Ecke, um sicherzugehen, dass er ungesehen herauskommen konnte. Er schloss das Gemälde hinter sich und eilte nach draußen.

Im Wald angekommen, suchte er angespannt nach vier passenden Ästen. Er wollte es schnell hinter sich bringen, damit er nicht gesehen wurde. Was sollte er denn sagen, wenn ihn jemand fragen würde, warum er im Wald nach Ästen suchte? Feuerholz für Julieta? Nein, dann könnte er genauso gut auch die dünnen Äste hier nehmen. Geschenke für Pepa oder Mamá? Die Leute würden ihn für armselig und verrückt halten. Vielleicht würde er einfach sagen, dass es mit einer Vision von ihm zu tun hatte, denn dann wechselten die meisten das Thema sofort und verschwanden.

Seine Gabe war vielleicht nicht gerade die, die von den Menschen am meisten gemocht wurde, aber sie war immer eine gute Ausrede, um ihn Ruhe gelassen zu werden. Natürlich durfte er das niemals Mamá sagen, schließlich hatte er mit fünf Jahren geschworen, dass er seine Gabe stets für Encanto und das Wohl der Menschen einsetzen würde. Und wenn sie herausfand, dass er sie nutzte, um sich vor den Menschen zu verkriechen, dann würde sie ihm die Hölle heißmachen.

Da! Bruno hatte einen geeigneten Ast gefunden, er ging ihm bis zu den Ellenbogen und war dick genug, um einen der Balken zu halten, und wenn er nun noch drei weitere von derselben Größe fand, war alles perfekt.

Ich sehe dich, BrunoWhere stories live. Discover now