Kapitel 4

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Einige Tage später ging Bruno wieder durch das Dorf, die Sonne schien hell und warm auf Encanto herab und keine Wolke war in Sicht. Pepa hatte heute Morgen äußerst gute Laune, denn Félix hatte sie endlich zu einem Spaziergang eingeladen und nun schwebte sie auf Wolken, im übertragenem Sinne natürlich. Bruno freute sich darüber, dass seine Schwester glücklich war, dennoch durfte er nicht vergessen, dass er sich noch mit diesem Félix unterhalten musste. Er würde nicht zulassen, dass sich Pepa auf jemanden einließ, der es nicht ernst mit ihr meinte. Das hatte sie nicht verdient und Bruno würde alles tun, um dies zu verhindern.

Im Dorf herrschte reges Treiben, Julieta hatte wieder ihren Stand aufgebaut und heilte verletzte Anwohner mit ihrem Essen. Manchmal beobachtete Bruno die Leute, die bei ihr in der Schlange standen und wunderte sich darüber, wie sie sich ihre Verletzungen nur zugezogen haben. Gerade zum Beispiel kam ein Mann an die Reihe, der seine Hand hielt, die in die falsche Richtung zeigte. Er musste richtig böse gefallen sein oder vielleicht hatte er seine Hand auch beim Hämmern mit einem Nagel verwechselt, Bruno jedenfalls wusste es nicht, auch wenn er es gerne täte.

Er beschloss, dass es doch ein guter Tag wäre, um Julieta bei ihrer Arbeit zu zusehen, und setzte sich auf eine Bank in ihrer Nähe. Er lehnte sich nach hinten und verschränkte die Arme. Manchmal dachte er darüber nach, dass diese Sitzhaltung ihn vielleicht unsympathisch erschienen ließ, dann aber dachte er, dass er viel zu viel nachdachte.

„Hey, Bruno!", Julieta hatte ihn gesehen und winkte ihm lächelnd zu. Bruno lächelte zurück und hob leicht die Hand. Seine Schwester grinste, wandte sich dann aber wieder ihrer Arbeit zu, denn gerade kam ein Junge mit einem blutenden Knie an. Wahrscheinlich ist der Kleine beim Fangen spielen gestürzt und hatte sich so sein Knie aufgeschlagen. Der Junge hatte getrocknete Tränen auf seiner Wange, aber ein breites Grinsen schmückte sein Gesicht, als er in Julietas Empanada biss und sich sein Knie sofort heilte. Er zögerte keine Sekunde und rannte wieder zu seinen Freunden, um weiterzuspielen. Bruno war sich sicher, dass er in wenigen Minuten wieder in der Schlange stehen würde.

„Hola, Señor Madrigal", flüsterte plötzlich jemand in sein Ohr.

Mit einem, nicht ganz so, männlichen Schrei sprang Bruno auf. Man musste nicht unbedingt erwähnen, dass er sich zu Tode erschrocken hatte. Mit einer Hand auf seinem pochendem Herzen und der anderen auf niemand anderen als Lucia zeigend, keuchte er: „Erschrecke mich nie wieder! Ich hasse das!"

Lucia lachte und setzte sich auf die Bank. Sie klopfte auf den Platz neben sich, um Bruno zu zeigen, dass er sich gefahrlos setzen kann. „Okay, okay. Ich merke es mir.", sie zwinkerte. „Aber es sah zu lustig aus! Du bist aufgesprungen wie so ein kleines Äffchen und dein Schrei noch dazu! Richtig süß!"

„Süß? Du fandest meinen beinahe Herzinfarkt süß?", Bruno schüttelte den Kopf. „Deine Auffassungsgabe ist ja mal sehr interessant."

„Was machst du heute?", wechselte Lucia das Thema. „Weiß nicht", Bruno zuckte mit den Schultern. „Bis jetzt habe ich nur Julieta bei ihrer Arbeit beobachtet."

„Beobachtet? Wurde dein Großer-Bruder-Instinkt aktiviert?", neckte Lucia ihn. „Genaugenommen bin ich der kleine Bruder.", gestand Bruno. „Wir sind Drillinge. Pepa wurde als erstes geboren, dann Julieta und dann kam erst ich."

„Oh", sagte Lucia. „Nun, ich dachte immer, es sei erst Julieta, dann du und dann Pepa."

„Warum?"

„Julieta strahlt so eine Ruhe aus. Sie läuft immer so herum, als würde sie nur darauf warten, dass sie einen Streit schlichten muss. Auch mit ihrer Gabe, sie übernimmt fast schon die Verantwortung über das ganze Dorf! Und Pepa wirkt, wie das jüngste Kind, weil sie sehr offen ist und so hibbelig. Sie wirkt, meistens jedenfalls, wie ein wahrer Sonnenschein, wortwörtlich. Zudem ist ihre Gabe auch da passend, denn sie ist wie ein Wirbelwind. Und du, Bruno, du wirkst, wie das mittlere Kind, weil du dich immer so zurückgedrängt fühlst, jedenfalls macht es den Anschein. Als würdest du nach Anerkennung und Aufmerksamkeit suchen, weil du sie nicht zur Genüge kriegst."

Ich sehe dich, BrunoWhere stories live. Discover now