Kapitel 41: Alles aus Liebe

63 11 2
                                    

Joaquin Miles.

Kaum ein Junge war so wild, so frech und so aufmüpfig wie er. Schon als Kind hatte er sich mit einer nahezu absurden Genugtuung Feinde auf dem Spielplatz gemacht. Sei es nun, weil er den Mädchen Schnecken in die Haare geklebt hatte oder weil er sich mit Vorliebe mit den Jungs aus Maspeth gerauft und ihnen nach einem Sieg die Schokoriegel abgenommen hatte.

Nein, kein Junge war so wild wie Joe. Aber es war auch kein Junge so mutig gewesen, ihn vor dem Lachen der anderen Kinder zu beschützen, das Rico mehr wehgetan hatte als der Sturz.
Und niemand sonst hätte dem Blödmann, der ihn mit einem harten Stoß von der Schaukel gefegt hatte, einfach die Schippe über den Kopf gezogen.

Er hatte diesen Jungen nicht gekannt, aber das hatte den nicht daran gehindert, seine errungenen Süßigkeiten mit ihm zu teilen. Und in diesem Moment, mampfend auf der Umrandung des Sandkastens sitzend, hatten sie sich aneinander gebunden.

Denn alles, was Joe wollte, war weniger wie die anderen zu sein und viel mehr wie er selbst. Und bei Rico konnte er das.

Der wusste nicht, warum ihm ausgerechnet dieser Tag von so unheimlich vielen aus den vergangenen Jahren jetzt so klar vor Augen hing. Vielleicht weil er gerade verstand, dass er der einzige war, der je eine so tiefe Bindung zu Joe gehabt hatte.

Niemanden sonst ließ der an sich heran. Er hatte ihn damals schon gewählt und aus ihrer Freundschaft etwas sehr Exklusives gemacht. Und obwohl seitdem so viele Jahre vergangen waren, war es heute genau wie damals.

Die Gewalt rief Stille hervor.

Nur langsam sickerte Joes letztes Geständnis durch sein püriertes Hirn. Er saß einfach nur da, auf dem blanken Beton, an eine weiß gestrichene Ziegelsteinmauer gelehnt, und konnte nicht fassen, was er gerade erfahren hatte.

Sein Atem ging trügerisch ruhig, während sein Herz doch raste, um seinem scheinbaren Rückschritt nachzueilen. War das in der letzten Minute noch zu Eis erstarrt, brannte es sich nun beinahe durch seine Brust.

Joe.

Sein ältester Freund hatte es nicht ertragen können, dass Rico aus dem Geschäft aussteigen wollte. Er hatte nicht zusehen wollen, wie sie sich immer weiter voneinander entfernten, weil ihnen weder die Schulzeit noch die Freizeit miteinander gewährt gewesen wäre, hätte er die Szene verlassen und den normalen Job bei Applebys angenommen.

Hätte er noch mehr Zeit mit Marvin verbracht.

Deshalb hatte er ihn bei Benito verpfiffen und mit ihm zusammen diesen makaberen Streich geplant. Sie hatten Frank mit dem Handy den Teil des Überwachungsvideos aufnehmen lassen, der ohnehin am nächsten Montagmorgen gelöscht worden wäre.

Damit hatten sie etwas in der Hand, das Rico sicher halten würde. Denn nicht einmal sein eigener Cousin, mit dem er praktisch aufgewachsen war, hatte ihm ein normales Leben gönnen wollen.

Sie beide hatten ihn gebraucht. Auf die eine oder andere Weise.

»Ist dir klar«, hörte er sich jetzt sagen, »dass alles, was seit dem Video passiert ist, deine Schuld ist?«

Joe kniete noch immer knappe zwei Meter neben ihm und hielt sich die gebrochene Hand, die wahrscheinlich im Rhythmus seines Blutes pochte, und wünschte ihm allein mit seinem Blick die Pest an den Hals.

»Ohne dieses Video hätte ich nicht verkaufen müssen. Das hätte ich nie freiwillig gemacht, und Benito wusste das. Du selbst hast gesagt, ich wäre ein mieser Dealer.«

Aus dieser Entfernung und mittlerweile etwas beruhigter, weil Joe mit dieser Hand in naher Zukunft niemandem mehr den Mittelfinger zeigen, geschweige denn ihn noch einmal angreifen könnte, hatte er genug Zeit, um all die Fehler, die Patzer, die Unfälle aufzurollen, die sich aus ihrer gespielten Erpressung ergeben hatten.

»Man hätte mir das Zeug nie abgenommen und ich hätte Ramon nichts zu beichten gehabt. Ich wäre nicht so übel zusammengeschlagen worden, dass ich heute noch nicht wieder richtig laufen kann, und ich hätte auch nie diesen Deal mit deinen Maspeth-Idioten durchgezogen.«

Diesmal war er es, der seinem sehr stummen Gesprächspartner den Moment gab, um sich zusammenzureimen, was er ihm ohnehin gleich vorwerfen würde. Joe entschied sich offenbar dagegen, ihm etwas anderes einreden zu wollen.

»Ich wäre nie da gewesen. Und das bedeutet, José wäre nicht verletzt worden. Mein sieben Jahre alter Bruder wäre nicht von einem verdammten Taxi angefahren worden, wenn du verdammtes Arschloch nicht so beschissen egoistisch wärst.«

Rico schrie nicht. Er hatte nicht das Bedürfnis, seine Gefühle mit Lautstärke zu untermauern. Seine ruhige, wenn auch kratzige Stimme drückte sehr viel deutlicher aus, wie tief der Hass saß, den er heute für seinen ehemaligen Freund empfand.

»José hätte an diesem Abend sterben können. Begreifst du das?«

Er wusste nicht, ob der sich je wieder legen würde. Ob er je wieder mit irgendjemandem Freundschaft würde schließen können. Er wusste nur, dass er hier und jetzt alles beendete.
Sein ganzer Körper schrie vor Schmerz, als er sich nun an der rauen Wand abstützte und langsam aber sicher zu einer Größe fand, die er selbst nicht für möglich gehalten hätte.

»Ich bin endgültig fertig mit dir. Aber ich wünsch' dir, dass du kriegst, was du verdienst. Was immer das sein wird.«

Und das meinte er vollkommen ernst. Er hatte alles gesagt, was zu sagen war, hatte ganz unmissverständlich erklärt, dass sie von nun an getrennte Wege einschlagen würden. Es war Zeit für ihn zu gehen.

Queens BlvdWo Geschichten leben. Entdecke jetzt