Kapitel 30: Kein Problem

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Als Rico aufwachte, drückte der in Falten geschlagene Stoff eines Sofakissens sein rechtes Auge zusammen. Er kümmerte sich kaum darum. Stattdessen horchte er einen Augenblick in sich hinein, um eine kleine Bestandsaufnahme seiner Blessuren zu machen.

Seine Kopfschmerzen waren nach der gehörigen Portion Schlaf nur noch ein dumpfer Hall, mit dem er durchaus leben konnte, aber sein Magen blieb ein einziger Klotz. Vorsichtig sah er sich in Marcs gemütlichem Wohnzimmer um, ein kleiner Test für die Augen. In Ordnung.

Vor sich auf dem Sofatisch entdeckte er eine Flasche Orangensaft neben einem länglichen Glas, in dem immer noch etwas sprudelte. Wahrscheinlich Aspirin, wenn er raten sollte.

Das würde er brauchen, entschied er, als er den Kopf hob und der Hall zu einem Pochen wurde. In einem aberwitzigen Versuch, nicht gleich wieder zu kotzen, schluckte er das Blubberwasser herunter und wartete schon auf die Weigerung seines Magens.

Als die ausblieb, sah er sich erneut um. Wo war Marc?

Nach seinem wiederholten Angebot war Rico erneut zu einem Häufchen Elend verkümmert und hatte eingewilligt, ihn in seine Wohnung zu begleiten. Der Stalker wohnte tatsächlich gar nicht so weit von ihrem alten Haus entfernt, was wohl auch erklärte, warum seine alte Schule und der Supermarkt, vor dem er Rico aufgelesen hatte, in seinem Wirkungsbereich lagen.

Hübsch hatte er es hier, das musste er zugeben. Das konnte er wohl nur deswegen, weil seine Zweizimmerwohnung exorbitant klein war und hier nur wenig Einrichtung untergebracht werden konnte.

Dennoch, das Sofa war ziemlich gemütlich, vor ihm lag ein flauschiger Teppich und die Wände waren allesamt hell, aber nicht einfach weiß gestrichen. Irgendwie cremig und an der einen Stelle neben der Heizung war die Farbe abgeblättert. Ließ vermuten, dass Marc hier gar nicht erst renoviert hatte.

Irgendwie fand er das sympathisch.

Seltsam waren allerdings die gefalteten Kartons, die hier in der Ecke standen. Vielleicht war er auch gerade erst eingezogen. Aber was kümmerte ihn das. Hier war gut geheizt, er hatte es bequem und leider dachte er gar nicht daran, so bald wieder zu gehen.

Er hätte ohnehin nicht gewusst wohin.

Um sich davon abzulenken, wie beschissen gerade alles lief, raffte er sich auf und suchte nach Marc. Im hinteren Teil der Wohnung raschelte etwas und lockte ihn vorbei an der kleinen Küche und der verschlossenen Badezimmertür bis zu seinem Schlafzimmer.

Studentenbude, dachte er plötzlich wieder. Nun, stimmte vielleicht sogar, so alt war Marc noch gar nicht.

Der saß auf dem Boden vor dem Bett und sortierte diverse Stapel Papier in klobige Ordner ein und wieder aus. Um auf sich aufmerksam zu machen, klopfte Rico an den Türrahmen.

»Oh, hallo«, entgegnete er. »Du stehst ja schon wieder. Geht es dir besser?«

Rico atmete einmal durch, wobei ihn der sehr präsente Duft seines Gastgebers in der Nase kitzelte. Der war nicht schlecht, aber einfach überall. Ja, so wie sein Besitzer.

»Ich denke schon.« Mit verschränkten Armen stand er noch immer in der Tür und vermied es, sich neugierig in seinem Zimmer umzuschauen. Aber viel war ja auch hier nicht vorhanden. »Was machst du?«

»Aufräumen. Ich dachte, ich werde ein wenig von dem hier los.«

»Ist eine Menge.«

»Stimmt. Aber irgendwo muss man ja anfangen.«

Rico nickte. Er kam sich hier völlig fehl am Platz vor und offenbar hatten sie einander nicht viel zu sagen. Aber worüber sollten sie sich auch unterhalten, schließlich waren sie keine Freunde. Was ihn sich wieder fragen ließ, warum Marc ihn eigentlich mitgenommen hatte.

»Tja, also ... danke.«

»Hast du Hunger?«

Oh Himmel, nein. Dieser Klumpen in seinem Bauch machte ihm immer noch Probleme. Er schüttelte lediglich den Kopf und senkte den Blick.

»Sicher? Es ist längst Abend.«

Wirklich? Rico suchte den Blick aus dem Fenster, doch die Rollos ließen keinen Lichtstrahl mehr durch. Der Wecker neben dem Bett bestätigte allerdings, dass es bereits nach neunzehn Uhr war. Wie lange hatte er denn geschlafen?

»Ich muss gehen.«

Ganz unvermittelt huschte Rico zurück ins Wohnzimmer, um seinen Pullover und die Schuhe zu holen, bevor er fluchtartig auch diese Wohnung verlassen würde. Das war zumindest der Plan, aber Marc stand schon hinter ihm.

»Wie komme am schnellsten nach Elmhurst?«

»Wohnst du da?«

»Nein. Fährt hier ein Bus?«

Marc musterte ihn einen Moment skeptisch. Offenbar hatte er seine ganz eigene Vermutung, wohin Rico so schnell verschwinden wollte. »Was gibt es denn sonst in Elmhurst? Nachschub?«

»Was?«

»Willst du dir die nächste Ladung besorgen?«

»Was ... Nein.«

Als Marc die Arme vor der Brust verschränkte und argwöhnisch eine Braue hob, loderte schon wieder eine nicht zu verachtende Wut in ihm auf. Er hielt ihn tatsächlich für einen Junkie.
Okay, er würde es vor dem Arsch nicht zugeben, aber nach der sauberen Wirkung von gestern und einigen Stunden Nulldiät hätte er zu einem kleinen Joint nicht Nein gesagt. Der würde wenigstens seine Nerven beruhigen, die gerade wieder mit ihm durchgehen wollten.
Aber das würde seinen Vorwurf nur bestätigen.

»Ich habe kein Problem.«

»Klar«, lachte Marc zynisch. »Deshalb zitterst du auch bei sechsundzwanzig Grad Zimmertemperatur.«

Rico verengte die Augen, dabei biss er sich auf die Zunge, um ihm keine Beleidigung entgegen zu rotzen. Er empfand tatsächlich Dankbarkeit und wollte ihm die nicht mit Vorschlägen, was er ihn alles konnte, zeigen.

»Rico, ich habe dich mit einer Menge Stoff erwischt. Dann völlig zerschlagen. Und als nächstes komplett orientierungslos mitten auf der Straße.« Marc ließ ihm einen Augenblick, um selbst drauf zu kommen. »Willst du immer noch behaupten, du hättest kein Problem?«

»Ich danke dir vielmals für deine Hilfe, aber ich muss jetzt wirklich gehen.«

»In welchem Zustand soll ich dich das nächste Mal finden? Tot?«

Er sollte sich nicht aufregen, sagte er sich selbst. Marc mochte seine auf Indizien beruhende Theorie als tragfähig ansehen, aber auch nur die Vorstellung, er glaubte, damit im Recht zu sein, ließ seine Hände wirklich zittern. Allerdings nicht wegen seines Verlangens nach Eddies Bestseller.

»Mir wäre lieber, du findest mich gar nicht mehr. Ich verstehe immer noch nicht, warum du mich überhaupt hergebracht hast.«

»Weil ich nicht will, dass du dich mit diesem Mist umbringst.«

Erschrocken holte Rico Luft, dann hielt er inne. Er hatte am vergangenen Abend gleich mehrere Fehler gemacht, die nicht nur ihm weh getan hatten, sondern auch seiner Familie. José war verletzt, seine Mutter stinkwütend und er selbst ... nun, das war offensichtlich.

Bevor Marc ihn eingefangen hatte, war es ihm wirklich ungewohnt mies gegangen, und dass er seinen aktuellen Zustand mit einem Tütchen aufbessern wollte, war selbst für ihn ein Warnzeichen.

»Rico. Was ich gesagt habe, habe ich auch so gemeint. Du warst ein so fröhlicher Junge, mit einer tollen Einstellung. Und ich glaube, irgendwo unter diesem Belag ist der noch vorhanden. Aber wenn du weiter in dieser ... Szene aktiv bist, wird bald nichts mehr von dir übrig sein. Entweder das oder du stirbst, bevor du auch nur volljährig bist.«

Queens BlvdWhere stories live. Discover now