Kapitel 37: Entscheidungen

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Das war also der Moment. Rico hielt sich noch immer versteckt hinter dem schmalen Ahorn auf der gegenüberliegenden Straßenseite und zog den Kragen seiner geliehenen Jacke über die Nase. Den Blick hielt er weiterhin auf die blau gestrichene Haustür gerichtet.

Er wusste, dass er an diesem Samstagmorgen zu Hause war. Schließlich hatte er ihn schon durch das Küchenfenster gesehen. Hatte beobachtet, wie er mit seiner Mutter herumgealbert hatte, wie sie ihm den Seifenschaum vom morgendlichen Abwasch auf die Nase gepustet und er schallend gelacht hatte.

Es war eine viel zu schöne Szene gewesen, um sie zu unterbrechen, und so hatte er hier warten wollen. Das war schon dreiundvierzig Minuten her, auch wenn er selbst das ohne Handy nicht sagen konnte, und das Geschirr war längst gespült. Er kam sich selbst vor wie ein Stalker. Trotzdem rührte er sich nicht.

Selbst nach dem langen ermutigenden Gespräch mit Marc blockierte ihn die Angst vor einer erneuten Ablehnung. Dabei war es seine Entscheidung gewesen, Joaquin und damit sein Geld und seine Habseligkeiten für den Moment zu vergessen und zunächst ein Problem anzugehen, das ihm viel dringlicher erschien.

Marvin die Wahrheit zu sagen.

Gott, ihm war schon wieder derart schlecht, dass er am liebsten zurück auf Marcs Couch gekrochen wäre.

Aber jetzt war er hier und selbst wenn er gleich in den Hortensienstrauch der Nachbarn kotzen würde, es war Zeit, reinen Tisch zu machen. Mit zitternden Händen und unsicheren Schritten überquerte er die Straße, ließ den Gartenzaun hinter sich und hob die Hand.

Sie waren ganz nah. Rico hörte selbst durch die geschlossene Tür das Lachen der Mutter. Dieser warme Klang wollte bereits ein Lächeln auf seine Lippen zaubern. Er zeugte von einem Heim voller Liebe, das dieser wunderbare Junge absolut verdiente, und doch spürte er einen Stich. Er würde Marvin gleich mehr als nur den Tag ruinieren und deshalb durfte er an ihrem derzeitigen Glück keinen Anteil nehmen. Das verdiente er nicht.

Sein Klopfen war fester, als er sich zugetraut hätte, und noch während er die Hand sinken ließ, ärgerte er sich darüber. Marvin öffnete ihm nur Sekunden später und brachte die gute Laune gleich mit an die Tür. Sein strahlendes Lächeln verpuffte jedoch wie ein alter Feuerwerkskörper, als er in sein zerschlagenes Gesicht blickte.

»Rico« Verblüfft starrte er ihn an. »Oh man, was ... Was ist passiert?«

Mist, mit einer Reaktion auf sein Veilchen hatte er nicht gerechnet und hatte das sicher nicht in seine einstudierte Ansprache integriert. Doch bevor er sich nun mit mitleiderregenden Erklärungen in eine zu günstige Position brachte, winkte er ab.

»Ist halb so wild. Hast du kurz Zeit?«

Marvin nickte und trat bereits einen Schritt zur Seite. »Ja. Ja, klar. Komm rein.«

Oh Himmel, nein, das konnte er ihm nicht antun und auch sich selbst nicht zumuten. Nicht in seinem Zuhause und schon gar nicht, wenn seine Eltern gleich nebenan waren. Kopfschüttelnd wich er selbst zurück.

»Ich ... Würdest du raus kommen? Vielleicht gehen wir ein Stück.«

War Marvin bisher gleichermaßen verwirrt wie auch besorgt, so wurde dieser Cocktail gerade mit einer nicht zu übersehenden Verunsicherung angereichert. Dennoch nickte er.

»Mom«, rief er über die Schulter, und bei der Aussicht, die gleich auch noch mit seiner lächerlichen Erscheinung zu beglücken, wandte Rico sich ab. »Ich bin eben weg.«

»Bist du zum Essen zurück?«

Fragend suchte er Ricos Blick, schließlich wusste er nicht, was ihn erwartete, und als der auch noch stumm bestätigte, biss er sich auf die Zunge. »Sieht ganz so aus.«

Spürbar beunruhigt griff er nach seiner Jacke und trat aus dem warmen Elternhaus hinaus in den beißenden Herbstwind. Oh man, wenn das nicht passend war. Und offenbar hatte Rico es verdammt eilig, hier weg zu kommen.

Ohne ihn anzusehen, lief der ein ganzes Stück die Straße hinunter, dabei hatte er das Atmen eingestellt und seine Kiefer mahlten angestrengt. Marvin saß ein Kloß im Hals, als er ihm folgte, denn das hier war selbst für Rico seltsam.

»Rico, jetzt warte doch mal. Ich habe versucht, dich zu erreichen. Das waren bestimmt sechs Nachrichten. Wo hast du denn gesteckt?« Er vermied es, nach seinem Arm zu greifen, schnitt ihm aber geschickt den Weg ab, als sie eine ruhige Seitenstraße erreichten. »Sagst du mir jetzt, was los ist?«

Abrupt blieb Rico stehen und blickte in ein bildhübsches, aber sehr besorgtes Gesicht. Okay, er wusste selbst, dass er ihn nur quälte, wenn er es hinauszögerte. Aber bevor er mit der Tür ins Haus fiel, war er ihm eine Erklärung schuldig.

»Tut mir leid«, versuchte er noch, diese grauenvolle Situation zu entschärfen. »Ich habe irgendwo mein Handy vergessen und ... Es war schlimm, die letzten Tage ...«

»Was denn?«

In Gedanken ordnete er kurz seine Rede und griff nach dem ersten Punkt auf seiner Liste, der ihm einfiel.

»Mein Bruder hatte einen Unfall. Er ... war im Krankenhaus.«

Marvin holte scharf Luft. Sein Mitgefühl war im selben Moment so greifbar, dass es Rico zu ersticken drohte. Bevor er ihn noch zu trösten versuchte, schüttelte der den Kopf und sprach möglichst langsam weiter.

»Ich war ziemlich neben der Spur, deshalb war ich bei meinem ... Ich war bei Joe, um mich abzulenken.«

Träge rieb er sich gerade den Nacken, denn das Ziehen, das seine Schulter hinauf und direkt in seinen Schädel wanderte, strafte ihn stellvertretend für den verständnisvollen Blick, den er nicht erwidern konnte.

»Ich habe Mist gebaut«, kündigte er an, entschied dann aber, noch eine andere Information vorweg zu schicken. »Es gibt etwas, das du nicht über mich weißt.«

»Dass du Drogen nimmst?«

Als hätte er ihm gerade mitten ins Gesicht geschlagen, fuhr Rico zusammen. Er rührte sich nicht, starrte ihn nur an mit einem Ausdruck, der von fragend bis leugnend alles abdecken konnte.

»Ich hatte so eine Ahnung. Neulich Abend im Diner dachte ich, ich hätte Gras gerochen. Da machte es irgendwie Sinn, dass du damals bei Applebys plötzlich so komisch gewesen bist.«

Dass er im letzten Jahr so gereizt bei der Arbeit aufgetaucht und dann plötzlich verschwunden war, hatte Marvin zu dem Zeitpunkt nicht verstanden. Rico hatte sich verändert, auch dafür fand er zunächst keinen Grund, aber dieser seltsame Geruch an seinen Klamotten hatte ihm schließlich einen eindeutigen Hinweis gegeben.

Doch während Marvin seine Annahme bestätigt sah, wusste Rico nicht, was das nun für ihn bedeutete. Wenn Marv es geahnt hatte, dann würde er vielleicht auch verstehen, warum er an diesem Abend mehr gebraucht hatte.

»Ich glaube, ich bin sogar froh, dass du es weißt«, überlegte er laut. »Das macht es irgendwie leichter.«

Auch wenn sein armes Herz Saltos schlug und er sich mit aller Kraft an die Hoffnung klammerte, mit einem Geständnis seine Sünden rein waschen zu können, brauchte er eindeutig zu lange, um seinen Text aufzusagen. Marvin kam ihm zuvor.

»Willst du etwa ... mit mir Schluss machen?«

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