Kapitel 40: Die Schwere eines Augenblicks

94 19 20
                                    

Diese Frage brannte ihm unter den Nägeln, seit er seinen Körper wieder unter Kontrolle hatte und ihm nicht bei jedem Gedanken der Kopf zu zerspringen drohte. Es ergab einfach keinen Sinn, dass Joe ausgerechnet jetzt Interesse anmeldete.

Als der begann, seine Hände zu Fäusten zu ballen, vergrub er die vorsorglich in den Taschen seiner Jacke. Aber wenn er glaubte, damit seinen Ärger verstecken zu können, lag er falsch. Dafür kannte Rico ihn einfach zu gut. Bewusst ging er noch einen Schritt auf ihn zu.

»Deinetwegen hatte ich den schlimmsten Absturz meines Lebens, weil du mir diesen Mist angedreht hast. Und auch nur deinetwegen habe ich Marvin verloren.«

Seine Vorwürfe bezweckten bereits, was er erreichen wollte, aber Rico stellte gerade fest, wie sehr er es gebraucht hatte, sich endlich einmal Luft zu machen.

»Du hast ausgenutzt, dass ich völlig erledigt war, und dann hast du getan, was du immer tust. Du hast mich ins offene Messer laufen lassen, damit es dir besser geht!«

Jahre lang hatte er Joe den Rücken frei gehalten, hatte ihn verteidigt, wenn er überreagiert hatte. Hatte ihn jammern und motzen lassen, wenn er mies drauf gewesen war, egal, wie es ihm selbst gegangen war. Hatte alles stehen und liegen gelassen, wenn er ihn gebraucht hatte.

Er hatte schlichtweg alles für dieses miese Arschloch getan und nie eine Gegenleistung dafür verlangt, obwohl er sie verdient hatte. Und als er dieses eine Mal wirklich seine Hilfe gebraucht hatte, hatte Joe ihn auseinander genommen. Hatte ohne Rücksicht auf ihn genommen, was er wollte.

Damit war auch Ricos Toleranzschwelle weit überschritten. Um das Fass wirklich zum Überlaufen zu bringen, packte der ihn nun an seiner heiß geliebten Lederjacke und zerrte an ihr wie an der Reißleine eines Fallschirms.

»Nein, Joe, wir sind keine Freunde. Freunde tun sich so etwas nicht an. Freunde würden einander unterstützen, anstatt sich so auszunutzen!«

Jetzt konnte auch Joe nicht mehr stillhalten. Mit einer ungekannten Energie stieß er Rico von sich, dass der ungebremst gegen die nächste Straßenlaterne prallte. Aber damit war sein Ärger noch lange nicht verraucht.

»Und wo war deine Unterstützung, du Freund? Wo warst du, als meine Mom mich nach fucking Connecticut schaffen wollte? Als ich dir davon erzählt habe, hast du nicht einmal gezuckt. Es war dir scheißegal, ob ich gehe!«

Und mit dieser Anklage kassierte Rico einen Schlag, der es wirklich in sich hatte. Ausgerechnet auf sein blaues Auge. Er spürte überdeutlich, wie die Haut über dem Knochen platzte, wie der Schmerz in seiner Schläfe explodierte und ihn von den Füßen holte.

Er konnte nicht verhindern, dass sich sein geschundener Körper schwungvoll Richtung Asphalt bewegte. Mit voller Wucht prallte er auf dem Boden auf und kleine spitze Steine bohrten sich in seine Haut. Ein hämischer Wink, dass er es zu weit getrieben und die Strafe nur verdient hatte.

»Schwachsinn!«, wehrte er sich und versuchte, sich mit aufgeschürften Händen abzustützen. »Du wolltest genauso wenig darüber reden wie du zu ihr ziehen wolltest.«

Doch Joe ließ nicht zu, dass er ihm die Schuld zuschob. Mit einem erneuten Stoß hatte er Rico auf den Rücken geworfen und stürzte sich nur so auf ihn. Das Gewicht auf seinem Bauch ließ seinen Magen erneut aufschreien, doch viel schmerzhafter war der Druck gegen seine malträtierten Rippen. Zumindest bis Joe zum Schlag ausholte.

»Und was war nach dem Scheiß mit Cheryl?«

Ein weiteres Mal fühlte es sich an, als würde ihm der Kopf abgerissen, und Rico hob aus Reflex die Hände, um sich zu schützen. Den nächsten Treffer konnte er nur notdürftig mit den Armen abwehren, aber Joe war nicht zu bremsen.

»Oder als mein Alter mich verprügelt hat?«

»Die gleiche Scheiße!«, brachte Rico gerade noch hervor. »Du hast mir das überhaupt nicht erzählen wollen ...«

»Und dann versetzt du mich für diesen kleinen Pisser, der dich überhaupt nicht verdient hat!«

Rico wusste, dass er Joes Handgelenke nur deshalb zu fassen bekam, weil der ihm die Gelegenheit dazu gab. Er wollte ihn den Augenblick der Erkenntnis ganz bewusst erleben lassen, denn der würde ihn schwerer treffen als seine Rechte.

»Der überhaupt nicht kapiert, wie du tickst, weil er nie verstehen wird, was wir sind. Was wir haben. Und du raffst einfach nicht, dass du bei mir besser aufgehoben wärst!«

Jetzt sträubte sich auch noch die letzte Prise Vernunft in Rico, ihm diesen Mist durchgehen zu lassen. Er hatte Marvin nie kennengelernt, hatte keine Ahnung, was für einen Unsinn er da von sich gab. Aber hier ging es gar nicht um Marvin, sondern einzig und allein um ihn.

Wie immer ging es nur um Joe, der nicht allein gelassen werden wollte. Der nicht teilen wollte, was er für sich beansprucht hatte, ganz gleich, ob Rico damit einverstanden wäre.

Zu spät erkannte er, dass seine Eifersucht auf diesen anderen Jungen krankhaft war.

»Ich habe gesehen, was mich bei dir erwartet.« Seine Stimme glich mehr einem Ächzen, doch sie sollte noch deutlich an Kraft gewinnen. »Marvin würde mir so etwas nie antun. Man kann euch gar nicht vergleichen, weil du nie an ihn ran kommen würdest!«

Und dann ging alles furchtbar schnell. Mit einem Ruck hatte Joe sich befreit und zum finalen Schlag ausgeholt. Rico reagierte einfach. Auch wenn es ihn alle Kraft kostete, riss er den Kopf herum so weit es nur ging. Er sah es nicht, hörte dafür aber sehr deutlich, wie die geballte Faust seines Gegners auf dem Beton zerbrach wie ein morscher Ast.

Joe hatte nicht das Glück eines Adrenalinrauschs, der Schmerz seiner gebrochenen Handknochen ließ ihn aufheulen und gab Rico die Chance, ihn von sich zu stoßen. Umständlich rollte er sich herum, wollte Abstand zu dem wütenden Berserker gewinnen, der sicher gleich ein zweites Mal auf ihn losgehen würde.

Doch Joe war nicht in der Lage, ihm zu folgen. Der hielt seine blutig geschlagene Hand umklammert, die unkontrollierbar zitterte, und krümmte sich auf dem Boden.

»Du bist so ein Vollidiot!«, brüllte Joe auf. »Ich wollte dir helfen, damit du endlich vorwärts kommst, und du verpisst dich einfach. Wenn du nicht so ein beschissener Feigling wärst, dann hätte ich dieses verfickte Video gar nicht gebraucht!«

Die plötzliche Stille, die sich wie ein klebriger Kokon um Rico schloss, schien auch die Zeit anzuhalten. Für einen kurzen Moment spürte er rein gar nichts. Keinen Schmerz, keine Wut, keine Reue. Nicht einmal das Brennen, als ihm sein eigenes Blut ins Auge lief.

Und er hatte die lächerliche Hoffnung, dass er sich verhört hatte.

Queens BlvdWhere stories live. Discover now