Kapitel 1: Die Freitagskooperative

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19. Oktober 2012, Queens, NY

Energisches Hupen heulte durch die Straßen, als der Junge mit dem Fahrrad quer durch die gestressten Autofahrer hindurch huschte und dabei mehr als einen von ihnen ausbremste.

Mit dem New Yorker Verkehrschaos aufgewachsen, ärgerte Rico sich schon lange nicht mehr über quietschende Reifen und einige, zugegebenermaßen, sehr kreative Beleidigungen. Er trat in die Pedalen seines wertvollsten Besitzes, doch nicht etwa, weil er verschlafen hatte. Ihn trieb vielmehr der Inhalt seines Rucksacks an.

Ja, Ricardo Alvez mit seinen gerade erreichten sechzehn Jahren und dem nicht mehr ganz modernen Fahrrad fiel hier keineswegs auf. Und so vermutete auch niemand, dass er gerade zwölf Pfund feinstes Marihuana vom Umschlagsplatz an die Händler auslieferte.

Auch wenn die Übergabe erst für den Abend vorgesehen war, wollte er seine kostbare Fracht in Sicherheit bringen, bevor ihn doch noch jemand schief ansah. Doch wie so oft erlaubte er sich noch einen kleinen Umweg.

Wie immer, wenn er die rostbraune Fassade seines ehemaligen Käfigs sah, der von innen aber gar nicht so übel war, überkam ihn Wehmut. Er wäre jetzt in der zehnten Klasse und sollte an Sportveranstaltungen und Mathenachhilfekursen teilnehmen. Stattdessen fuhr er Gras spazieren.

Scheiße.

Und jedes Mal, wenn er hierher kam, um Joaquin zu treffen, dachte er daran, wie sein Alltag aussehen könnte, wenn alles nur ein wenig anders gelaufen wäre.

Ja, sein Leben war gehörig durcheinander geraten, aber das war eine Tatsache, die er zu gern verdrängte, denn schuld daran war seine Mutter. Jedenfalls im weitesten Sinne.

Danke, Mom.

Wie üblich ließ er sein Fahrrad an dem alten Baucontainer stehen, der ihm seit einer Weile Deckung vor den Augen der Lehrer gab, bevor er pünktlich zur Pausenklingel an den Rand des Geländes schlenderte.

Und immer, wenn ihm die bekannten Gesichter begegneten, die ihn musterten, als sei er nicht einmal mehr unter Gleichaltrigen willkommen, ärgerte ihn dieser Lebensweg noch mehr. Aber Joaquin war im Gegensatz zu ihm nicht geächtet worden und verbrachte seine Stunden damit, auf dem Schulhof den coolen Rebellen zu geben.

Und natürlich erkannte er ihn sofort, als er mit der Traube an Mitschülern aus dem Haupthaus strömte. Er strich sich die dunklen Haare aus der Stirn, eine Hand in seiner Lederjacke vergraben, und zupfte schon auf dem Weg zu ihm eine Zigarette aus dem Ärmel.

»Hey man«, grüßte er ihn müde und saugte den ersten erlösenden Zug blauen Rauchs in seine Lungen. »Alter, ich schlaf gleich ein. Geschichte ist ätzend.«

Joaquin sah sich um, ob sie vielleicht beobachtet wurden. Zum einen, weil er hier keineswegs rauchen durfte, zum anderen, weil er von Rico etwas erwartete, das ebenso wenig gesellschaftstauglich war.

»Hast du es dabei?«

Nickend griff Rico in die Tasche seiner Jacke und überreichte ihm wie selbstverständlich eine kleine Cellophantüte mit fein geschnittenen grünen Blättchen, mit besten Grüßen von Onkel Eduardo.

»Wann druckt Cam endlich ein Logo auf die Dinger? Das Zeug würde sich noch besser verkaufen, wenn man direkt sehen könnte, dass es von Eddie kommt.«

Als ob Camilo diese Art von Aufmerksamkeit brauchen würde, dachte Rico mit den Schultern zuckend. Sein Stoff, angebaut von Onkel Eduardo, der für sie alle nicht nur eine Institution der ordentlich berauschten 70er darstellte, verkaufte sich von selbst. Hauseigenes Rezept nannte der mittlerweile etablierte THC-Botaniker das. Und es kam gut an.

»Also heute Abend bei mir? Mein Alter hat noch Bier da gelassen, bevor er abgehauen ist. Kleine Party gefällig?«

Das freche Grinsen, das Joaquin dabei zeigte, war ansteckend, nicht zuletzt, weil er damit wieder eine Woche ohne elterliche Aufsicht in Aussicht stellte. Auch wenn er hier gerne den Badboy gab, hatte er immer noch etwas von dem aufgedrehten Zweitklässler an sich, mit dem er durch den Park getobt war und im Brombeerbusch sitzend Geheimnisse geteilt hatte.

Rico musste den Blick abwenden, denn dieser eine Moment zwischen ihnen vor ein paar Wochen, völlig high in seinem Zimmer sitzend, hatte ihn immer noch nicht losgelassen. Trotzdem hätte er gern Ja gesagt.

Gut, dass er das nicht konnte.

»Geht nicht. Ich muss heute Abend zu Frank, Paket abliefern. Und Mom hat die Spätschicht.«

»Stimmt. Okay ...« Joaquin hatte seine Zigarette schon beinahe dem Ende entgegen getrieben. »Wie sieht's aus, nimmst du mich da jetzt mal mit?«

Shit. Da war wieder dieses unangenehme Thema, um das Rico nur zu gern einen Bogen gemacht hätte. Joe in den ganzen Ärger mit rein zu ziehen, war noch schlimmer als selbst drin zu hängen.

»Ich glaube nicht, dass du das wirklich willst, Joe.«

»Alter, sag mir nicht, was ich will. Ich bin keine zwölf mehr. Mein Dad lässt mir gerade mal genug Kohle da, dass ich nicht verhungere, wenn er wieder loszieht. Ich brauch nur die Connections, der Rest läuft dann von ganz allein.«

Der Rest lief dann sicher total aus dem Ruder, das war wahrscheinlicher. Joe legte in letzter Zeit ordentlich zu, was das Rauchen anging.

»Rico?«

Er wollte ihn immer noch abwimmeln, aber dieser Blick, dieser erwartungsvolle Ausdruck in dem viel zu vertrauten Gesicht, das ihn drängte, ihn nicht auszuschließen, damit er selbst über die Runden kam. Verdammt ...

Aber ohne den Auftrag von Camilo, der zumeist von Benito oder seltener auch von Ramon überbracht wurde, käme er ohnehin nicht an diese Connections. Er wusste nicht, wo der Umschlagsplatz lag oder wie er den Boss erreichen könnte.

»Okay, schon gut. Kennst du Airweld, neben der alten Kranvermietung?« Als sein Freund beinahe schon begeistert nickte, hatte er verloren. »Sei viertel vor sechs da, warte an dem blauen Container. Ich hol' dich da ab. Und sieh zu, dass dich keiner sieht.«

»Geht klar. Und die Party holen wir nach. Ich bewahr' das hier auf, versprochen.«

Irgendwie glaubte Rico ihm das nicht, trotzdem schlug er ein, als Joaquin ihm die Hand reichte und sich fürs Erste verabschiedete. Einen Augenblick sah er ihm nach und hatte das ungute Gefühl, einen gewaltigen Fehler gemacht zu haben.

Natürlich hatte Joe keine Ahnung, wie es unter den Jungs ablief, deshalb war er auch noch so engagiert. Das war Rico auch einmal gewesen, besonders nachdem er seinen ersten Anteil eingesteckt hatte.

Ja, das schnelle Geld. Es stimmte, was man so sagte. Für relativ wenig Aufwand bekam er ein nettes Sümmchen, mit dem er seine Mutter unterstützen konnte. Aber sollte doch mal einer von ihnen den Cops in die Arme laufen, wären das im Verhältnis auch nur ein paar Kröten.

Rico schwang sich wieder auf sein Fahrrad und rollte diesmal sogar einigermaßen vernünftig die Straße herunter. Als ihm der kalte Oktoberwind um die Nase wehte, zog er den Kragen seiner Jacke höher und spürte das Gewicht seiner Ware sehr viel deutlicher als noch vor einer halben Stunde.

Wenn er jetzt einen Fehler machte, dachte er, wie viele Jahre würden ihm diese zwölf Pfund dann wohl einbringen?

Shit. Und da war auch schon wieder das Sodbrennen, das ihn seit seiner ersten Lieferung immer wieder heimsuchte. Das sollte ihm doch ein Zeichen sein. War er denn eigentlich bescheuert? Er fuhr hier mit ganzen zwölf Pfund Marihuana durch eine Gegend, die als sicherer Stadtteil galt, seit das NYPD hier ständig patrouillierte.

Als seine Ampel grün wurde und er möglichst unauffällig weiterfahren wollte, wackelte sein Lenkgrad aber bedrohlich. Ja, die zweiminütige Rotphase hatte ihm genug Zeit gegeben, um sich der Situation wieder richtig bewusst zu werden.

Shit.

Okay.

Ganz ruhig. Atmen. Einfach weiterfahren. Nicht durchdrehen.

Er machte diesen Job schon einige Monate und ihm war noch nie etwas passiert. Er würde das Paket jetzt in seinem Versteck bunkern und heute Abend wäre er es los. Dann hätte er ein paar Tage Ruhe, bevor Benito ihn wieder anrufen würde.

Ja, genau. So sehr er sich auch auf diese wenigen Tage in Sicherheit freute, so schnell wären sie auch schon wieder rum und er müsste die nächste Ladung wegschaffen.

Oh Mann, nein, er wollte das wirklich nicht mehr machen. Aber was war die Alternative?

Queens BlvdWhere stories live. Discover now