Kapitel 38: Wo wir die Grenze ziehen

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»Wa... Nein! Nein, glaub mir, das ist das letzte, was ich will.«

Seine Verzweiflung unterstrich den Ernst in seiner dünnen Stimme, aber das konnte Marvin nicht beruhigen. Der war sich mittlerweile sicher, dass Rico ihm gleich das Herz brechen würde.
Wie Recht er doch hatte.

»Meine Mom war scheißwütend an dem Abend. Wir haben uns gestritten. Ich dachte, ich würde José verlieren. Dieser Unfall ... dieses Geräusch.«

Wieder hörte er den spitzen Schrei, der durch die Nacht zuckte. Ein Schauer erfasste seinen ganzen Körper, als er erneut seinen verängstigten und verletzten kleinen Bruder auf der Straße liegen sah. Er kroch im gleichen Tempo seinen Nacken hinauf wie sich die nackte Angst um seinen Hals legte.

Das Pochen in seinen Schläfen machte es ihm einen Augenblick lang unmöglich, den nächsten Gedanken in Worte zu fassen. Er schluckte mit einem hörbaren Klicken in der Kehle und versuchte hartnäckig, sich nicht von diesem Gefühl erdrücken zu lassen.

»Hattest du schon mal solche Angst?«

Rico sah nicht, wie Marvin betreten den Kopf schüttelte, doch seine Antwort war auch nicht nötig. In dieser Nacht hatte Rico gelernt, was echte Angst war. Was man zu geben bereit war, welche Verhandlungen mit sich selbst, mit Gott und selbst mit dem Teufel denkbar gewesen wären, um zu verhindern, dass ein so zartes Licht erlosch.

»Ich habe das nicht ertragen. Ich wollte das nicht fühlen. Und Joe hatte etwas, das all das betäuben konnte.«

Es war verdächtig ruhig um sie herum, während Rico den schlimmsten Moment in seinem Leben in Worte fasste. All der Schrecken war mit einem Mal zurück und er war sich sicher, dass er nie, niemals wieder aussprechen würde, was er nicht einmal zu denken wagte.

»Ich habe nicht lange darüber nachgedacht. Es hat geholfen, für eine Weile. Aber ...«

Aber es hatte den Rest seines jämmerlichen Lebens zerstört. Denn wenn er nun gestand, was ihm noch immer die Galle hinauf trieb, wäre auch der letzte Hauch Unschuld verschwunden.

»Ich hatte Sex.«

Das Pochen in seinen Schläfen war zu einem Hämmern geworden, es hatte den gleichen Rhythmus angenommen, den sein getriebenes Herz vorgab, und in seinem Hals kratzten die Tränen, die er nicht würde zurückhalten können.

»Mit Joe. Ich war so zugedröhnt, dass ich mich an nichts erinnern kann.«

Als er ihm damit ins nackte Herz stach, konnte Marvin nur noch die Augen schließen. Es schien ihm der einzige Weg, etwas von diesem Schmerz abzuwehren, der seine Brust flutete. Und Rico beobachtete schweigend, wie dieser wunderbare Junge still an dem zerbrach, was er nicht verdient hatte.

War es möglich, dass sogar der Wind verstummt war? Er hörte nur Marvins gequälte Stimme. »Du hast ... was?«


»Ich habe das nicht gewollt. Ich weiß, ich habe Mist gebaut. Ich habe es total versaut, das weiß ich, und es tut mir leid. Aber Marvin ...«

Als Rico in einem verzweifelten Versuch die Hand nach ihm ausstreckte, wich der zurück. Und riss damit sein Innerstes entzwei.

»Nein. Wag' es ja nicht.« Sein gehetzter Blick durchbohrte ihn mit einer Enttäuschung, deren Tiefen er nicht für möglich gehalten hatte. »Wie konntest du ...«

Und er bildete sich ein, dass Marvin ihm die Schuld daran gab, so benutzt worden zu sein. Auch wenn sein träges Hirn wusste, dass das nicht stimmte, war es in diesem Augenblick sein schlimmster Feind.

»Marvin, ich wollte das nicht.«

Ricos Stimme war nicht mehr als ein Krächzen, auch wenn er gerade jetzt am liebsten aus Leibeskräften geschrien hätte. Er konnte einfach nicht erklären, was der Ausdruck in Marvins Gesicht und die auflodernde Wut in seiner Stimme mit ihm anstellten.

»Ja, das hast du schon gesagt. Du hast aber auch gesagt, dass du mit mir zusammen sein willst.«
»So ist es doch auch. Ich will dich!«

»Und wie soll ich dir das glauben, wenn du ... Warum erzählst du mir das überhaupt?«

Marvin wandte sich ab, als die Trauer ihm die Luft abschnitt und ihm Tränen in die Augen stiegen. Wild blinzelnd blickte er die leere Seitenstraße herunter und verfluchte diesen Tag, verfluchte diesen Joe und verfluchte auch Rico.

»Marv«, versuchte der es demütig. »Ich will nur dich. Ich gehöre doch nur dir. Ich höre mit allem auf. Und ich schwöre dir, dass so etwas nie, nie wieder passieren wird. Das werde ich nicht zulassen.«

Gott, wie sehr er sich das wünschte. Als Rico ganz vorsichtig mit den Fingerspitzen über seine Hand strich und Marvin ihn nicht von sich stieß, glomm ein Funke in seinem maroden Inneren auf.

Doch so zart diese Hoffnung war, so schnell entzog Marvin sich ihm nun. Mit der befreiten Hand wischte er sich über die Wange, dann sprang sein Blick ihn förmlich an. Nichts in dieser Welt könnte wieder gut machen, was ihnen genommen worden war.

»Ich wünsche dir alles Gute, Rico, aber für mich war es das. Wir sind fertig.«

   

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Hymenoptera. Die Hautflügler. Eine Ordnung der Insekten, die Carl von Linné begründet, aber deren Namen er nie wirklich erklärt hatte. Die Ameise hatte keine Flügel, zumindest jetzt nicht mehr.

Die bekam sie erst im Mai, wenn sie sich auf Hochzeitsflug begab, und verlor sie danach wieder. Hexapoda. Sechs Beine, aber keine Flügel. Das Leben hatte ihm ebenfalls gerade die Flügel genommen, aber er weigerte sich, den Unfall mit Joe als Erfüllung ihres Zweckes anzusehen. Sie waren ihm herausgerissen worden in einem Moment, in dem er sich vom Fliegen mehr versprochen hätte als von zusätzlichen Beinen.

Rico hatte weder das Eine, noch das Andere. Konnte nicht laufen und schon gar nicht durch die Lüfte gleiten, um vor all dem Schmerz zu fliehen, der ihn immer schwerer werden ließ, je länger er hier stand.

Marvin war einfach gegangen. Er hatte mit ihm Schluss gemacht und war gegangen.

In seinem Kopf herrschte eine Leere, die er noch nie so empfunden hatte. Da war kein Gedanke, den er wirklich fassen konnte, und doch platze er beinahe vor all der geistigen Arbeit, die sein völlig überfordertes Hirn zu leisten versuchte.

Sein Blick hielt keine Tränen mehr, die hatte er bereits alle geweint. Er starrte nur noch trüb auf die Risse zwischen den Pflastersteinen und beobachtete die letzten Ameisen, die vor ihrem eigenen exogenen Zyklus davon liefen.

Es musste so kommen. Sie würden sich nicht mehr lange an der Oberfläche halten können. Die Biologie verlangte, dass sie sich auf den Winter vorbereiteten, und zwang sie in den Untergrund. Er wusste, wie sich das anfühlte. Sein Flug war ebenfalls schon vorüber.

Nur langsam löste Rico sich von diesem Bild. Er hatte sich etwas anderes gewünscht, als er hierher gekommen war. Eine Aussprache und eine Versöhnung. Aber im Grunde hatte er schon gewusst, dass es so einfach nicht werden würde.

Er musste sich von der Vorstellung befreien, mit Marvin glücklich zu werden. Der Szene mit seiner Unterstützung den Rücken zu kehren. Mit dem Wissen, dass er für ihn da sein würde, seinen letzten Auftritt hinzulegen.

Er hatte ihn verloren, und diese Erkenntnis brachte eine altbekannte Wut zurück in seine Magengegend. Ein Gefühl, das letztlich dafür sorgte, dass er sich in Bewegung setzte. Er musste noch immer seinen Mist aufräumen. Er würde aussteigen, noch heute.

Und er musste den Grund für seine Trauer finden.

Joe.

Queens BlvdWhere stories live. Discover now