Kapitel 32 - Wenn die Vergangenheit dich einholt

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Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich hatte gedacht, dass es gut zwischen uns lief. Doch kaum wurde es ernster, bekam er kalte Füße. Hatte er Bindungsängste? Stimmte etwas mit mir nicht?

"Guten Morgen", begrüßte er mich, als er das Büro betrat.

Er sah müde aus. Auch er schien wenig geschlafen zu haben. Unter seinen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet.

"Alles in Ordnung?", fragte ich ihn.

Er zuckte mit den Schultern.

"Ich weiß es nicht. Ich muss erst einmal den Kopf frei bekommen."

Mit diesem Satz ließ er mich allein zurück. Was ging in ihm vor? Es war offensichtlich, dass er mir etwas verheimlichte.

Die letzten Wochen war ich auf Wolke 7 durch das Leben geschwebt. Ich hatte nicht einmal geahnt, dass etwas in ihm schlummerte, von dem ich nichts wusste. Doch nun knallte ich schmerzhaft auf den Beton und ich wusste nicht einmal warum. All das nur, weil ich nach unserem Status gefragt hatte.

Die Tatsache, dass ich einen Schritt weitergehen und es endlich Beziehung nennen wollte, hatte ihn komplett aus dem Konzept gebracht. Hatte er in mir nur ein Affäre gesehen? Waren wir mit unterschiedlichen Vorstellungen an die Sache gegangen? Eigentlich hatte ich das Gefühl gehabt, dass zwischen uns mehr war, als nur körperliche Anziehung.

In der Mittagspause traf ich ihn in unserer Küche.

"Können wir bitte heute Abend reden?", bat ich ihn. "Ich würde nämlich sehr gern wissen, was los ist. Meinst du nicht, dass ich wenigsten verdient habe zu wissen, warum du keine Beziehung willst?"

"Es ist nicht so, als würde ich keine Beziehung mit dir wollen", zischte er leise, denn es sollte uns keiner hören. "Es ist komplizierter."

"Deshalb möchte ich, dass du es mir erklärst." Ich drehte mich nun zu ihm und griff nach seiner Hand. Es war mir egal, ob es jemand sehen konnte. "Du kannst mir vertrauen."

Kurz ließ er die Berührung zu, doch dann zog er die Hand weg.

"Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann, aber ich will dir nicht wehtun."

Mit großen Augen sah ich ihn an. Was wollte er mir damit sagen?
"Erik, deine kryptischen Aussagen machen es wirklich nur schlimmer. Können wir bitte Klarheit in die Sache bringen? In meinem Kopf kommen nämlich gerade Gedanken auf, in denen du mich mit 3 Frauen gleichzeitig betrügst."

Er verdrehte die Augen, doch schnell wurden seine Gesichtszüge wieder sanfter.

"Ich komme heute Abend bei dir vorbei. Dann können wir reden." Er schien sich zwingen zu müssen, das auszusprechen.

Mehr oder weniger zufrieden nickte ich.

Plötzlich ertönte ein lauter Knall vor unserem Fenster. Ich zuckte kurz zusammen und sah dann hinaus. Ich erblickte drei Jungs, die mit Böllern zündelten. Sie warf einen weiteren und ein erneute Knall ertönte. Die Kinder lachten laut auf. Doch nur kurz, denn ich sah, wie eine ältere Dame begann, ihnen eine Standpauke zu halten.
"Diese Kinder von heute", gab ich genervt von mir und sah dann zu Erik.

Dieser stand mit Schweißperlen erstarrt da. Sein Blick ging ins Leere.

Ich begriff erst jetzt. Wie hatte ich vergessen können, dass Explosionen für ihn noch immer Gefahr bedeuten? Wie ich mittlerweile erfahren hatte, hatte er extra einen Schreibtischjob angenommen, weil er aufgrund seines Traumas nicht mehr im Außendienst einsetzbar war.

Ich legte meine Hand auf seine Brust.

"Ich bin hier", ließ ich ihn wissen und hoffte, dass ich mit meiner Stimme zu ihm durchdrang. "Es waren nur zwei Böller, die von Kindern gezündet wurden."

Noch nie zuvor hatte ich ihn in dieser Verfassung gesehen. Er wirkte auf mich immer als starker, gestandener Mann. Doch nun stand ein verletzliches Häufchen Elend vor mir. Wie ein verschrecktes Reh, das gerade den Schuss des Jägers gehört hatte.

Ich schloss ihn in eine Umarmung. Erik ließ es zu. Er legte seinen Kopf auf meine Schulter und schloss seine Arme um mich. Ich versuchte ihn bestmöglich Halt zu geben, auch wenn er deutlich größer und schwerer als ich war.

Ich sah wieder aus dem Fenster. Die Kinder rannten davon und ich hoffte, dass keine weitere Explosion folgen würde. Doch tatsächlich knallte es noch einmal. Sein Körper zuckte zusammen und verkrampfte. Die Kinder verschwanden hinter der Kurve am Ende der Straße.

"Sie sind weg", ließ ich ihn wissen und drückte ihn fest an mich. "Es ist vorbei."

Es folgte keine Reaktion von ihm. Ich streichelte ihm über den Rücken.

"Du bist in Sicherheit", ließ ich ihn wissen.

Sein Körper war mittlerweile ganz kalt geworden. Ich strich ihm mit meinem Daumen eine Träne von der Wange und nahm dann sein Gesicht in meine Hände, sodass er mich ansehen musste.

"Es ist okay", ließ ich ihn wissen. "Es ist okay. Konzentriere dich auf deine Atmung. Ein- und Ausatmen." So hatte er mich damals auch im Fahrstuhl angeleitet.

Er schloss die Augen und schien tatsächlich zu versuchen einen Rhythmus in seine Atmung zu bekommen.

Zunächst befürchtete ich, dass er hyperventilierte, doch schnell kam eine gewisse Gleichmäßigkeit zurück.

"Es wird besser, oder?", erkundigte ich mich.

Er nickte, bekam aber noch immer kein Ton über seine Lippen. Es tat mir in der Seele leid ihn so leiden zu sehen.

Schritte kamen näher und plötzlich er reagierte sofort. Er stieß mich weg und griff blitzschnell nach der Tupperdose, in dem sein Mittag war. Ich hatte leider nicht diese Reaktionsvermögen und stand planlos im Raum, als Constance die Küche betrat.

Sie zog eine Augenbraue hoch, als sie mich sah.

"Hallo", sagte sie unterkühlt.

Ihrem Blick konnte ich ansehen, dass sie mir sagen wollte "Und du willst mir wirklich erzählen, dass zwischen euch nichts läuft?". Doch sie sprach es nicht aus.

"Hallo", hörte ich einen kratzigen Laut aus Eriks Kehle kommen. Er war noch immer blass, doch er versuchte sich nichts anmerken zu lassen und piekste mit einer Gabel ein paar Nudeln auf.

"Ich wollte nicht stören", sagte Constance und holte eine Dose mit Salat aus dem Kühlschrank. Sie schwang sich ihre Haar über die Schulter und verließ dann wieder den Raum.

Sofort schnellte mein Blick zu Erik. Constances Eifersucht hatte bei mir gerade keinerlei Priorität.

"Geht es dir besser?"

Er rang um Fassung und tupfte sich mit einer Serviette Schweißperlen von der Stirn.

"Ja", versuchte er mit kräftiger Stimme zu antworten, doch ich hörte noch immer den Schock heraus. "Tut mir leid. Ich hätte mich besser unter Kontrolle haben sollen."

"Entschuldige dich nicht dafür!"

Ich suchte wieder seine Körpernähe, doch er ging einen Schritt zurück.
"Nicht hier", mahnte er mich. 

Letters from a StrangerWhere stories live. Discover now