Kapitel 4 - Der Kamp aus meiner Lebenskrise

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"Nein, das hast du nicht gemacht!", rief Wilma entsetzt.

Wir saßen in der Mittagspause zusammen im Stadtpark. Wilma arbeitet in einer Physiotherapie, die nur eine Straße weiter als unsere Wache, sodass wir die Pause für gewöhnlich zusammen verbringen konnten. Der Tag heute überbot die Hitze vom gestrigen Tag noch einmal. Schweißperlen standen uns beiden auf der Stirn. Während Wilma trotzdem die Sonne suchte, um sich einen dunklen Teint zu verpassen, hatte ich mich in den Schatten zurückgezogen. Meine Haut reagiert auf Sonne lediglich mit mehr Sommersprossen, aber nicht mit mehr Bräune. Und darauf konnte ich verzichten, denn Sommersprossen hatte ich bereits genug zu bieten.
"Doch! Es stört mich und es gibt eine Möglichkeit es zu fixen. Also warum nicht?", rechtfertigte ich mich.

"Lotta, du bist in der absoluten Lebenskrise. Es wird deine Probleme nicht lösen, wenn du dir Botox in die Stirn spritzen lässt!"

Es war das erste, das ich am Morgen getan hatte. Ich hatte Google geöffnet, mir Bewertungen von ein paar Studios durchgelesen und bei dem, mit den besten Erfahrungsberichten, einen Termin ausgemacht.

"Es löst aber zumindest ein Problem und zwar die Falte auf meiner Stirn."

"Ja, und setzt für alle anderen Frau den Maßstab wieder ein bisschen höher."

Ich lachte, denn es war lächerlich.

"Also ob jemand wie ich den Maßstab für das weibliche Schönheitsideal nach oben setze."

"Hör auf, dich ständig selbst schlecht zu reden."

Ich wusste, dass es nicht gesund war ein negatives Selbstbild zu haben, doch gleichzeitig war es auch etwas, über das man keinerlei Kontrolle hatte. Ich konnte nicht einfach sagen: "Ab jetzt finde ich mich hübsch". So lief das leider nicht.

Und ich war mittlerweile auch in einem Alter, in dem ich an meinem Aussehen mit Hausmitteln nicht mehr viel ändern konnte, denn mit meinem Gewicht war alles in Ordnung. Ich lebte gesund und hatte das absolute Normalgewicht. Gegen hängende Brüste, Falten im Gesicht und gegen schlechtes Bindegewebe halfen leider nur Skalpell und Spritzen. Doch zugegebenermaßen wollte ich es auch nicht übertreiben. Abgesehen von einer Botoxspritze in die Zornesfalte wollte ich mich von weiteren Eingriffen fernhalten.

"Können wir einfach das Thema wechseln? Mich hat das schon die ganze Nacht wachgehalten. Ich brauch mal ein bisschen Abwechslung."

Ich sah Wilma an, dass sie mit mir noch stundenlang darüber diskutieren könnte, doch mir zuliebe nahm sie sich zurück.

"Meinetwegen. Dann erzähl mir doch mal von eurem neuen Chef. Hat der nicht heute seinen ersten Tag?"

Ich nickte und dachte daran, wie Herr Wagens heute Morgen gut gelaunt mit einem Kaffee in die Wache spaziert war und Constance ihn förmlich mit den Augen ausgezogen hatte. Ich war mir ziemlich sicher, dass er es wahrgenommen hatte, doch souverän übergegangen war.

Constance war ein Jahr älter als ich, doch sie genoss im Gegensatz zu mir ihre Freiheit als Single. Sie war weder an einer Beziehung noch an einer eigenen Familie interessiert und ich beneidete sich manchmal dafür. Sie hatte immer wieder Affären und One-Night-Stands und fand darin offenbar ihre Erfüllung. Ich war gespannt, ob Herr Wagens auch bald zu ihrer Liste hinzugefügt werden würde. Der ein oder andere Kollege war dort bereits verzeichnet.

Ob Herr Wagens verheiratet war, hatte sich bis jetzt noch nicht herumgesprochen, doch ich war mir sicher, dass Constance es schnell herausbekommen würde. Eins musste man ihr wirklich lassen: Sie ließ die Finger von vergebenen Männern und das sah ich ihr sehr hoch an.

"Ich habe noch nicht viel mit ihm gesprochen. Er hängt eh gerade fast ausschließlich mit der IT-Abteilung in der Leitung, weil er Zugänge zu sämtlichen Systeme und Accounts braucht und es leider nicht bei allen funktioniert hat. Er scheint aber ganz nett zu sein. Er hat für alle belegte Brötchen als Einstand mitgebracht."

"Na, das ist doch schon mal was."

"Ja, bis jetzt macht er einen guten Eindruck. Ses kam heute auch schon wieder ein Brief von diesem Bernd Klasic. Der hört einfach nicht auf."

"Dieser Verrückte, der sagt, dass seine Frau von Geistern entführt wurde?"

Ich nickte.

"Ja, er tut mir irgendwie leid, denn er glaubt das wirklich. Er ist meines Wissens auch in psychologischer Behandlung, aber offensichtlich kann man ihm da auch nicht richtig helfen. Der arme Kerl ist vollkommen verzweifelt und fordert, dass wir endlich die Ermittlung aufnehmen."
"Aber wisst ihr, was mit der Frau ist?"

Ich nickte.

"Ja, sie ist tot. Sie ist vor einem Jahr bei einem Straßenbahnunfall gestorben und das hat er nie verkraftet."

"Oh nein! Wie traurig."

"Ja, es ist wirklich tragisch." Trotzdem nervte es jede Woche einen verwirrten Brief von diesem Mann zu erhalten. "Apropos tragisch! Ich habe mich gestern Abend tatsächlich noch bei einer Dating-App eingeloggt und mit einem Christian geschrieben. Und heute morgen auf dem Weg zur Arbeit schreibt er mir, dass er jetzt wieder nach einer Partnerin sucht, nachdem seine Frau vor zwei Jahren gestorben ist."

Wilma verzog das Gesicht.

"Oh jee!"

"Ja! Ich wusste gar nicht, was ich schreiben soll! Ich habe dann mein Beileid ausgedrückt, aber ich kann unmöglich jemand daten, der schon so vorbelastet ist."

Ich wusste, dass es moralisch betrachtet, nicht die feine englische Art war, aber ich war ja schon mit einer normalen Beziehung überfordert. Da konnte ich nicht auch noch so ein Päckchen mittragen.

"Also triffst du ihn nicht?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Nein. Es tut mir zwar total leid, aber es macht auch keine Sinn sich aus Höflichkeit mit ihm zu treffen."

Wilma nickte zustimmend.

"Verstehe."

"Aber genug von mir. Was gibt es bei dir Neues?"
Sie zuckte mit den Schultern und wirkte geknickt. Ich ärgerte mich über mich selber, dass es mir nicht schon vorher aufgefallen war.

"Ich nehme weiterhin die Hormonspritzen. Ich habe heute Morgen einen Test gemacht, aber er war wie immer negativ."

Am liebsten hätte ich sie umarmt, doch bei unserer derzeitigen Schweißproduktion, wäre es für uns beide kein Genuss.
"Das tut mir leid."

Wilma und ihr Mann Eren versucht schon seit Jahren ein Kind zu bekommen, doch es wollte einfach nicht funktionieren. In der Kinderwunschklinik waren sie mittlerweile zu Stammkunden geworden. Wilma spritzte sich mittlerweile Hormone und ihr Sex war bestimmt durch eine App, die ihnen mitteilte, wann die Chancen am besten für eine Empfängnis waren. Bisher jedoch erfolglos. Mittlerweile versuchten sie auch ein Kind zu adoptieren, doch auch das war ein jahrelanger Prozess, bei dem sie noch viele Herausforderungen vor sich haben würden.

"Tja, was soll man machen?", sprach sie und man hörte an ihrer Stimme, dass sie langsam die Hoffnung verlor.

"Hey", sagte ich und tätschelte ihre Schulter. "Das wird schon noch. Vielleicht wirst du noch schwanger. Du bist 32. Da ist noch viel Zeit, um es weiterhin zu probieren." Sie hatte ja immerhin schon den Partner, der mir noch fehlte, was ihr einen enormen Zeitvorsprung gab. "Und selbst wenn nicht, dann klappt das schon noch mit der Adoption. Man wäre doch bescheuert, wenn man so tollen Menschen wie euch kein Kind geben würde. Ihr seid die liebevollsten Menschen, die ich kenne und das werden auch die Behörden sehen. Bleib zuversichtlich!"

Sie nickte tapfer.

"Ja, nächste Woche ist ja auch schon wieder der Termin zur künstlichen Befruchtung. Vielleicht klappt es ja dieses Mal auf diesem Wege."

"Ja, genau! Bleibt optimistisch und setz dich nicht zu sehr unter Druck." Es war so ironisch, dass ausgerechnet ich diese Floskel sagte. "Ich weiß, dass es schwer ist, aber immerhin hast du mit Eren den besten Mann der Welt an deiner Seite."

Sie lächelte als ich seinen Namen sagte und das machte mich so glücklich. Ich wünschte, ich hätte auch so eine Verbindung wie diese beiden es hatten. 

Letters from a StrangerWhere stories live. Discover now