Kapitel 20 - Kontrollverlust

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Ich war denkbar schlecht in das Wochenende gestartet. Das Loch meiner Lebenskrise war noch größer geworden.

Ich suhlte mich in Selbstmitleid und quälte mich mit Heartbreak-Playlists. Ich hatte sämtliche Hoffnung verloren, je wieder glücklich zu werden. War ich jemals wirklich glücklich?

Meine Kindheit konnte man vermutlich als glücklich bezeichnen, doch schon als Jugendliche begannen die ersten Probleme. Ich ließ mich auf falsche Freundschaften ein und war viel zu schüchtern, um zu den Leuten dazuzugehören, die scheinbar immer Spaß hatten.

Und daran hatte sich nie etwas geändert.

Ich hatte nie zu denen gehört, die ständig unterwegs waren und Abenteuer erlebten. Ich war nie eine von denen gewesen, die Fotos posteten, auf denen Menschen ihre Biergläser hoben und glücklich in die Kamera lächelten. Generell hatte ich nur wenig Fotos von mir, weil es in meinem Leben nur wenige Momente gab, die es überhaupt würdig waren, auf Fotos festgehalten zu werden.

Ich hatte versagt.

Es klingelte an meiner Tür.

Unter keinen Umständen würde ich sie öffnen. Mein Gesicht war vollkommen aufgequollen und rot wie eine Tomate.

Wieder klingelte es.

Ich vergrub mein Gesicht in meinem Kissen. Ich wollte mit meinem Leid allein sein.

Nun drückte jemand die Klingel durch, sodass ein Dauerton entstand. Wenn das nicht die Feuerwehr war, die hier war, um mein Leben zu retten, war ich verdammt sauer.

Ich raffte mich auf und öffnete die Tür.

Überrascht sah ich meinen Besuch an.
"Wilma?", sagte ich überrascht. "Was machst du hier?"

Sie hielt Schokolade und Rotwein hoch.

"Was glaubst du wohl? Du erzählst mir von dem Kuss und dem anschließenden Korb und antwortest dann nicht mehr auf meine Nachrichten....Natürlich komme ich dann vorbei, um nach dem Rechten zu schauen. Und wenn ich dich so sehe, komme ich auch keine Sekunde zu früh."

Beschämt sah ich zu Boden.

"Komm rein!", murmelte ich.

Meine Aufforderung war überflüssig, denn sie hatte eh schon einen Schritt in die Wohnung gesetzt. Dann sah sie sich entsetzt in der Wohnung um. Meine Klamotten lagen auf dem Boden, zu der sich eine leere Pizzapackung und eine Tasse mit kaltem Tee gesellte.

"Dir geht es ja noch viel schlimmer als ich dachte", stellte sie fest.

"Hmm."

Ich fühlte mich tatsächlich so, als wäre ich am Tiefpunkt meines Lebens angekommen. Sämtliche Kraft hatte mich verlassen.

"Setz dich auf die Couch und ich räume derweil auf. Eine saubere Wohnung reflektiert einen klaren Verstand. Das waren doch immer deine Worte!"

"Eben", entgegnete ich. "Mein Verstand ist ein einziges Chaos."

Sie schüttelte den Kopf.

"Nun sei nicht so dramatisch, nur weil jemand dir gesagt hat, dass er den Kuss mit dir gern vergessen möchte."

"Du verstehst das nicht! Er ist ein Traummann!"

Mein Traummann.

"Aber auch dein Chef. Ein bisschen musst du ihn doch auch verstehen können! Ich denke nicht, dass es gegen dich persönlich ist. Sondern vielmehr die Tatsache, dass er nichts mit seiner Sekretärin anfangen will."

Es machte keinen Unterschied, was der Grund war. Fakt war, dass ich ihn nie haben würde. Zwar hatte ich es schon vorher gewusst, doch ein Fünkchen Hoffnung hatte ich mir immer bewahrt. Jetzt schlug die Gewissheit jedoch ein wie eine Bombe.

Ich nahm einen großen Schluck Rotwein, während Wilma meine Sachen vom Boden einsammelte. Es war erstaunlich, welch ein Chaos man innerhalb eines Tages anrichten konnte.

Ich sah aus dem Fenster und blickte direkt auf das Badfenster von Herr Wagens. Er war heute Morgen schon duschen gewesen, doch nun sah ich, wie dort das Licht anging. Das war ungewöhnlich, denn Herr Wagens machte das Licht für gewöhnlich nur an, wenn es draußen dunkel war. Es war jedoch früher Nachmittag. Ich sah seine Silhouette näher ans Fenster herankommen.

Moment!

Nein!

Das war nicht er!

Das war eine Frau!
Ganz eindeutig zeichnete sich die Silhouette einer Frau hinter dem Milchglas ab.

Wie sehr wollte mich das Schicksal eigentlich noch foltern? Ich ertrug es nicht mehr und ließ einen kurzen Wutschrei los. Sofort kam Wilma zu mir ins Zimmer gerannt.
"Was ist?", fragte sie entsetzt.

Ich zeigte mit meinen Finger auf das Fenster.

Wilma verstand sofort und zog geistesgegenwärtig den Vorhang zu.

"Vielleicht hat er eine Freundin und er hat sie mit mir betrogen!", wütete ich.

"Na ja, es war nur ein Kuss, aber ja, es kann gut sein."

Ich dachte daran, wie er Andy gestern erzählt hatte, dass es kompliziert sei. Hatte er diese Frau gemeint? Ich dachte, es wäre auf mich bezogen gewesen... Hatte er sie gestern Abend noch zu sich geholt, um sich zu vergnügen? Weil ich nicht gut genug war.

Mir wurde schlecht.

Plötzlich vibrierte mein Handy. Es war eine Nachricht von ihm. 

Letters from a StrangerWhere stories live. Discover now