Kapitel 3 - TIK TAK TIK TAK

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Es war dunkel, als ich nach Hause kam. Ich schalte das Licht im Flur an und ließ erschöpft meine Tasche auf die Holzdielen fallen.
Meine Wohnung war zwar klein, doch ich mochte sie, denn ich hatte sie mit viel Liebe eingerichtet. An den Wänden hingen selbstgemalte Bilder, die Kommoden hatte ich mit eigener Muskelkraft abgeschliffen, gestrichen und mit neuen Knöpfen versehrt. Die Trockenblumenkranz hatte ich ebenso mit viel Liebe gestaltet, wie meine Kollage mit Postkarten. Zwar konnte ich mir auch nicht mehr leisten, als die Standardeinrichtung vom skandinavischen Möbelhaus, doch mit ein bisschen Kreativität und Handarbeit erschuf ich daraus meine eigenen Werke.

Diese 40 m² waren mein Reich und ich war dankbar, überhaupt noch bezahlbaren Wohnraum in dieser Lage ergattert zu haben.

Ich schlurfte müde in mein Schlafzimmer. Kaum hatte ich den Raum betreten, ertönte ein Geräusch, welches mir in den letzten Wochen schon sehr vertraut geworden war. Sofort zauberte es mir ein Lächeln ins Gesicht und ich lief zum Fenster hinüber, um es ganz zu öffnen.

Ich hatte mich schon oft geärgert, dass mein Schlafzimmer seit zwei Jahren sehr dunkel war, weil nur zwanzig Meter davor ein neuer Gebäudekomplex entstanden war, der mir jegliches Tageslicht raubte. Auf der Seite, die mir zugewandt war, waren lediglich die Milchglasfenster der Badezimmer zu sehen. Doch seit Kurzem war der Anblick aufregender geworden. Denn ganz offensichtlich war dort ein Mann eingezogen, der gern 80er-Jahre-Songs beim Duschen hörte und dem vermutlich nicht bewusst war, dass er damit die ganze Nachbarschaft unterhielt. Denn er sang jedes einzelne Lied leidenschaftlich mit. Seine Stimme hallte durch die Nacht. Er war ganz offensichtlich kein professioneller Sänger, doch einer mit Passion. Wenn er aus der Dusche stieg konnte ich zudem seine Silhouette hinter dem Milchglas erkennen. Von der Statur wirkte er trainiert und ich malte in meinem Träumen aus, was für ein attraktiver Mann er wohl war.

Die Tatsache, dass er gerade Abba zum Besten gab, machte ihn noch sympathischer. Zu gerne würde ich das Gesicht dazu kennen, doch da ich lediglich das undurchsichtige Badezimmerfenster sehen konnte, war mir dieses bisher verborgen geblieben.

Ich beobachtete, wie seine Silhouette hinter dem Fenster erschien und er nach seinem Handtuch griff. In meinem Kopf begannen nicht jugendfreie Bilder zu entstehen. Ich sah, wie sein Kopf weiterhin zur Musik mitwippte, doch er hatte aufgehört zu singen.

Schließlich verschwand er und schaltete das Licht aus.

Ich nahm das auch zum Anlass mich für meinen Schönheitsschlaf vorzubereiten. Ich schminkte mich ab und sah mir im Spiegel selbst ins Gesicht. Mit Schrecken stellte ich mal wieder fest, dass ich mittlerweile in einem Alter war, indem es angebracht war, in Anti-Aging-Produkte zu investieren. Meine Zornesfalte nahm mittlerweile Ausnahme an, die ich nicht mehr akzeptieren wollte. Mit meinen Finger zog ich die Haut glatt. Ich wünschte manchmal, ich könnte die Zeit zurückdrehen.

Ich seufzte und ging in mein Schlafzimmer, wo ich mich erschöpft auf mein Bett fallen ließ. Meistens konnte ich im Alltag meine Angst vor dem ständigen Ticken meiner biologischen Uhr gut verdrängen, doch heute war wieder so ein Tag, an dem mein Kopf nichts anderes hörte als TIK TAK TIK TAK TIK TAK.

Ich hasste es, dass mein Bett genug Platz für zwei hatte und ich doch immer nur alleine darin lag. Würde es jemals anders sein?

Ich griff nach meinem Handy. Was Wilma nicht wusste, war, dass ich mir schon längst ein Profil bei einer Dating App erstellt hatte, doch mir stets der Mut gefehlt hatte dort aktiv zu sein.

Ich öffnete die App. Der Bildschirm meines Handys war die einzige Lichtquelle im Raum.

25 ungelesene Nachrichten.

Ich sah mir meine eigenen Bilder an. Schlecht sah ich nicht aus, was aber hauptsächlich daran lag, dass ein überbelichteter Filter jegliche Augenringe und Unebenheiten verschwinden ließ. Allein deshalb würde ich mich mit niemanden treffen wollen. Ich wollte mir lieber gar nicht die Enttäuschung vorstellen, wenn die Männer mit der Realität konfrontiert wurden.

Ich löschte alle Fotos und suchte ein neues Profilbild aus. Eines, auf dem ich aussah, wie ich nun mal aussah. Rundes Gesicht, Sommersprossen und Haare, bei denen sich die Menschen nicht entscheiden konnten, ob es rot oder blond war. Mittlerweile hatte man den Begriff "Erdbeerblond" dafür entwickelt, doch als Kind hatte meine Haarfarbe stets für Diskussionen gesorgt.

Ich sah mir die Profile der Männer an. Bei den meisten standen meist zu Beginn des Textes die Buchstaben "ONS". Das war für mich schon das erste Ausschlusskriterium. Ich wollte keine One-Night-Stands. Wann hatte sich unsere Gesellschaft dazu gewandelt, dass man erst Sex hatte und sich dann verliebte, anstatt anders herum? Manchmal dachte ich, dass ich in den 60ern vielleicht besser aufgehoben gewesen wären. Doch dann dachte ich daran, dass Frauen damals noch in der Ehe vergewaltigt werden dürften und noch nicht einmal selbstständig einen Arbeitsvertrag unterschreiben konnten.

Plötzlich poppte eine Nachricht von einem Christian auf.

Hey, so spät noch wach?

Hatte ich wirklich Lust, mich darauf einzulassen?

Ja, aber mir fallen gleich die Augen zu, tippte ich, ohne nachzudenken.

Ich sollte das Handy beiseite legen und einfach schlafen. Doch stattdessen sah ich mir das Profil an. Es war schon mal ein gutes Zeichen, dass er auf die Buchstaben ONS verzichtet hatte. Auf dem Bild wirkte nett, aber auch schüchtern. Er trug eine rahmenlose schmale Brille, die seine hohe Stirn betonte. Doch sein Lächeln war nett. Ich würde ihn nicht unbedingt, als attraktiv einschätzen, aber ich dürfte auch nicht zu wählerisch sein. Es wäre nicht realistisch zu erwarten, dass ich jemals einen Mann mit muskulösen Armen, vollem Haar und breitem Kreuz an meiner Seite haben würde. Beim Nerd-Typ, wie Christian es war, hatte ich deutlich bessere Chancen.

Was hast du denn gemacht, dass du so müde bist?

Eine kleine Lebenskrise durchlaufen, weil ich endlich eine feste Arbeitsstelle hatte.

Ich war mit einer Freundin noch in einer Bar. Und warum bist du noch so spät wach?

Ich wartete die Antwort nicht mehr ab, sondern legte mein Handy auf meinen Nachttisch. Ich hatte jetzt nicht mehr die Kraft mich mit potentiellen Dates auseinanderzusetzen.

Ich kuschelte mich in meine Daunenbettdecke ein und wünschte mir insgeheim, dass es ein Körper war, der meine Zuneigung erwidern konnte.

Letters from a StrangerWhere stories live. Discover now