Kapitel 6 - Lieber Unbekannter

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Lieber Unbekannter,

zunächst möchte ich erst einmal klarstellen, dass ich keine verrückte Stalkerin bin, auch wenn es vielleicht den Eindruck macht.

Ich wohne in dem Häuserblock gegenüber von deinem Badezimmer. Ich wollte dir nur sagen, dass du mir an schlechten Tagen ein Lächeln ins Gesicht zauberst.

Ich weiß nicht genau, ob dir bewusst ist, dass die ganze Nachbarschaft deinen Duschgesang hören kann. Dafür bin ich mir jedoch sicher, dass ich nicht die einzige bin, die von deiner guten Laune angesteckt wird. 80er-Songs machen eh jeden glücklich, aber die Art und Weise, wie du sie singst, ist so echt und ansteckend. Man merkt, wie sehr du sie fühlst und damit machst du die Menschen glücklich. Zumindest mich und dafür bin ich dir sehr dankbar!

Bitte höre niemals auf damit!

Ich hielt den Brief in der Hand. Es war lächerlich. Was wollte ich damit bewirken?

Insgeheim hoffte ich ihn kennenzulernen, doch ich hatte ihm nicht einmal gesagt, wo genau ich wohnte, sodass er mich nicht einmal kontaktieren könnte, selbst wenn er mich nicht sofort als verrückt abstempelte. Wovon ich ehrlich gesagt ausging.

Meine Familie hatte erst vor einer halben Stunde meine Wohnung verlassen und nun saß ich wieder allein in meiner Wohnung und fühlte mich einsam. Aus dieser Einsamkeit heraus hatte ich mir einen Stift genommen und einfach drauf losgeschrieben. Es war nicht mein Plan gewesen, diesen Brief wirklich zu übergeben, doch ich befand mich nun im Treppenhaus des Gebäudes, in dem der Mann lebte, der unter der Dusche seine großen Auftritte hatte.

Mein Herz schlug so kräftig in meiner Brust, sodass ich meinen Puls in den Ohren hören konnte.

Was war, wenn ich ihm zufällig über den Weg lief? Oder er gerade die Tür öffnete, wenn ich den Brief auf seine Fußmatte legte?

Eins stand jedoch fest: Seine Wohnung kostet mindestens das doppelte im Vergleich zu meiner eigenen. Hier gab es keine Schmierereien an den Wänden, alle Glühbirnen funktionierten und Flecken von nicht identifizierbaren Flüssigkeiten gab es auch nicht. Beide Fahrstühle waren in Betrieb, doch wie immer verweigerte ich sie. Lieber stieg ich eine Treppe bis zum Mond, als für 5 Sekunden in einen Fahrstuhl zu sein.

Dann erreichte ich die dritte Etage.

Ich versuchte mich zu orientieren. Ich durfte auf keinen Fall den Brief vor die falsche Tür legen. Doch ich war mir sicher, dass es die zweite Wohnung auf der rechten Seite sein musste.

Ich hielt inne und sah auf Stück Papier in meiner Hand.

Dann zückte ich noch einmal meinen Stift. Er sollte zumindest die Möglichkeit haben mich zu kontaktieren. Gleichzeitig sollte er jedoch nicht wissen, wer ich war.

Falls du auch so ein altmodischer Romantiker bist wie ich, kannst du gern eine Antwort hinter dem Pflanzenkübel des Zitronenbaums bei den Fahrradständern legen.

Ich hatte das Gefühl mich gerade in meinen Tagträumen zu verlieren. Welcher Mann würde ernsthaft darauf antworten?

Doch jetzt hatte ich es geschrieben und das leider nicht mit Bleistift. Immerhin würde er nie erfahren, wer ihm solche kitschige Post schrieb.

Hoffentlich wusste er überhaupt, wo der Zitronenbaum stand, denn genau genommen hatte der Baum noch Früchte getragen. Ich konnte nur auf ein gewisses botanisches Grundverständnis hoffen.

Ich stand nun vor seiner Tür. Auf dem Klingelschild stand kein Name sondern lediglich eine Zahl. Ich dachte immer, dass nur Superreiche anonym wohnten, doch offenbar war das auch hier der Fall.

Schade.

Ich hätte gern gewusst, wie er hieß. Vielleicht hätte ich ihn sogar in sozialen Medien ausfindig machen können.

Hatte ich den Brief wirklich damit begonnen, dass ich keine verrückte Stalkerin war.

Plötzlich hörte Schritte in der Wohnung. Schlagartig ließ ich den Brief fallen und rannte in Richtung des Treppenhauses. So, als wäre ich ein zwölfjähriges Mädchen, das sich gerade einen Klingelstreich erlaubt hatte.

Hastig nahm ich die Stufen und verlor dabei fast das Gleichgewicht.

Als ich an die frische Luft trat, spürte ich, wie Endorphine durch meine Adern gejagt wurden. Die Tatsache, dass ich mich gerade aus meiner Komfortzone begeben hatte, fühlte sich deutlich besser an, als ich gedacht hatte. Vielleicht ging es gar nicht darum, dass ich ihn wirklich kennenlernen wollte, sondern vielmehr darum, dass ich aktiv versuchte meine Situation zu verbessern. 

Letters from a StrangerOù les histoires vivent. Découvrez maintenant