~Die Befreiung~

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Vazyllanne zögerte. Sie vertraute Asren. Ihr Blick schweifte zu Aznael. Er blickte sie mit glasigen Augen an und sie fühlte sich elend. Jetzt hielt er sie für eine Verräterin, für eine Fremdgeherin. Stets hatte sie ihm geschworen, dass sie nur Aznael liebte. Und doch hatte sie ein Kind mit Asren. Vazyllanne spürte, wie sie sich wieder zu jener Frau verwandelte, die immer mit kühlem Kopf das Volk aus Daulinien leitete. Sie hatte die Bürde der Königin auf sich genommen, damit sie die Vergangenheit vergessen konnte. Und heute hatte das Zurückliegende nicht widerstehen können. Es war aus ihr gebrochen wie Lava aus einem Vulkan. Sie spürte das Misstrauen ihrer treuesten Diener, spürte die erschrockenen und missmutenden Blicke der Krieger. Vazyllanne drehte sich um, um die Träne zu verbergen, die ihre Wange herablief. Asrens Erscheinungsbild hatte sie verstört. Alles wieder auf den Kopf gestellt.

Unvermittelt kam jemand aus dem äußeren Stadtring gewankt. ...Athavar? Vazyllanne schüttelte ungläubig den Kopf. Auch die anderen Krieger erblickten den auferstandenen Toten wieder. Er war einstimmig für tot erklärt worden, wie konnte er da leben?! Die Elfenkönigin nutzte den kleinen Tumlut, der mit Athavars Erscheinungsbild ausbrach, und setzte sich ohne ein weiteres Wort auf ihren weißen Hengst. Sie verstand Asren. Er konnte nicht darüber reden. Und sie auch nicht. Asren war besessen von einem Biest, das man nicht bei Namen nennen durfte. Von einem Monster, um das abertausende Märchen spielten, kaum aber jemand an dessen Existenz glaubte.

Der Gegenwind trocknete ihre Träne. Sie genoss die kalte Luft, hob ihr Gesicht in die letzten Mondstrahlen. Bald würde ein neuer Tag beginnen. Sie zog an den Zügeln und das prächtige Pferd blieb stehen. Sie wusste, dass Asran hier war. Ihre Blicke rasten über die Schatten der Mauer. Seine Anwesenheit hing wie ein Geruch in der Luft. 

Eine Gestalt löste sich aus dem Dunkel. Asran hatte seinen Platz nicht gewechselt, während sie weg gewesen war. Vazyllanne suchte nach dem Griff ihres Messers. Stets hatte sie eine Waffe bei sich. Als Königin war man nie sicher, egal wie viele Elitekrieger sie um sich hatte. Asran sagte nichts, stumm ging er auf sie zu. Vazyllanne schüttelte langsam den Kopf. Er nickte. „Gehen wir in die Bibliothek. Sie liegt hier gleich um die Ecke. Dort kann ich dir alles erzählen", sagte Vazyllanne und deutete auf ein riesiges Haus, dessen weiße Wände mit goldenen und silbernen Schriftzeichen versehen waren. Die beiden großen Türen bestanden aus bunten Glassplittern, jeweils ein Einhornkopf aus Marmor war auf einer der zwei Säulen neben den Türen aufgestellt. Die handfertigsten Steinhauer hatten die beiden Tiere gefertigt. Sie wirkten wie echt, nur versteinert. 

Asran drehte sich um und Vazyllanne folgte ihm. Die goldene Klinge ihres Messers spiegelte sich in dem Licht des Vollmondes. Die Elfenkönigin schlang den linken Arm um Asrans Brustkorb, zog ihn an ihren Körper und rammte mit der Rechten das Messer in sein Herz. Keuchend fuhr Asran herum. Ein Blutfleck bildete sich auf seinem dunklen Mantel. Er wurde immer größer. Dann sank der Elf in sich zusammen. Vazyllanne zog ihr Messer aus dem Brustkorb ihres Sohnes. Der Griff war in sich selbst verschlungen, Blüten rankten sich um den eingesetzten Rubin. Das Messer war eine tödliche Schönhheit.

Vazyllanne ließ sich neben Asran nieder. Sie fuhr ihm mit der Hand über das Haar. „Es tut mir so leid", sagte sie und ihre Stimme stockte. „Du hast so wenig über dich selbst gewusst. Über deine Ahnen. Du wärst geworden wie dein Vater, unwissend, dass dein Geist von jemand anderen eingenommen wird. Ich werde Lyvaron töten müssen. Zu seinem eigenen Glück. Seine Seele wird wie deine wieder geboren werden. Und Asren werde ich befreien. Oder auch töten. Ich kann nicht über sein Geheimnis sprechen. Aber ich werde es vernichten!" Tränen sammelten sich in Vazyllannes Augen. Das Leben war so ungleich verteilt. Niemals würde es Frieden geben können.

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Vazyllanne gab Asren das grüne Amulett. Sie hatten sich in einem der unzähligen Häuser ihrer Stadt verschanzt. Die Kämpfe zwischen Grackern, Menschen, Zwergen und Elfen waren verstummt. Sie hatten zwar drohend ihre Waffen erhoben, ihre Bögen gespannt oder Katapulte geladen, aber ein Waffenstillstand herrschte. Denn es verhandelten die zwei mächtigsten Personen miteinander. Vazyllanne musterte Asren neugierig. Sie traute ihm nicht so ganz, der Wahn könnte jeden Moment neu zurückkehren. Aber Asren legte in aller Ruhe die fünf Amulette auf den Tisch. Jedes einzelne war auf seine Art mystisch. Die verschiedenen Steine glänzten in dem Licht einer einzelnen Fackel, deren warmes Licht dennoch nicht das unbehagliche Gefühl vertreiben konnte, das von den Amuletten ausging. 

Asren legte seine Hände neben den Kreis, den er aus den Amuletten erschaffen hatte, und schloss die Augen. Seine Pupillen rasten unter den Lidern, seine Hände zuckten. Vazyllanne wich zurück und presste sich an eine Wand. Asren stieß einen stummen Schrei aus, Adern traten aus seiner Stirn hervor. Er wollte sich erheben, vom Tisch zurücktreten, doch seine Hände waren wie angenagelt. Sie lösten sich nicht von der Tischplatte. 

Plötzlich begann in jedem einzelnen Amulett ein kleines, weißes Licht zu lodern. Es wurde größer und traf sich in der Mitte des Kreises der magischen Steine mit den Lichtern der anderen Amulette. Eine große, gelbweiße Säule erhob sich aus dem Mittelpunkt des Kreises und schoss hinauf durch das Dach in den Himmel. Asrens Atem ging keuchend, er riss die Hände von dem Tisch und schlug die Augen auf. Der Lichtstrahl wurde immer dicker, er pulsierte, als wäre er lebendig. Langsam verblassten die Farben der Amulette, sie wurden dunkel, schwarz. Dann zerbröselten sie, als würde man einen Streifen Pergament anzünden. Zurück blieb nur schwarze Asche. 

Asren wurde von den Amuletten geschleudert und prallte mit seinem Rücken auf den harten Steinboden auf. Und dann begann die Asche zu tanzen. Die schwarzen Flocken hoben und senkten sich, vereinten sich zu schwarzem Nebel, der wild um sich selbst raste. Asren stöhnte und sein Kopf sank auf den Boden. Vazyllanne eilte zu ihm und hielt seine Hand. Schwarzer Nebel löste sich aus dem Körper ihres einstigen Geliebten und vereinte sich mit dem Nebel, der aus den fünf Amuletten entstanden war. Das Schwarz wurde undurchsichtig und formte sich zu einer Gestalt. Ein riesiger, zweieinhalb Schritt großer Vogel entfaltete seine Flügel. Seine Federn waren tiefschwarz, sein Schwanz blutrot. Bernsteinfarbene Augen schienen Asren zu durchdringen. Dann löste er seinen unheimlichen Blick und schrie einen heiseren, ohrenbetäubenden Schrei. Draußen antwortete jemand. Der Schrei war tief, jaulend, als würde eine mächtige Kreatur dieser Welt sterben. 

Vazyllanne trat die Tür auf und sah hinauf. Der Himmel hatte sich blutrot verfärbt. Eine schwarze Gestalt fiel aus dem Himmel. Flügelschlagend versuchte sie dem Abgrund zu entkommen, doch sie trudelte weiter herab. Canad. 

Seine Gestalt verschwamm und löste sich auf, gleichzeitig ertönte erneut der Schrei des Vogels, der aus den fünf Amuletten entstanden war. Das Dach brach auf und das Biest mit blutrotem Schwanz erhob sich in die Lüfte. Herausfordernd schrie er zu all den Kriegern hinunter, dann entfernte er sich flügelschlagend und verschwamm in der Ferne mit den Bergen. Langsam verblasste das Rot, das das Schwarz des Himmels eingenommen hatte. Vazyllanne drehte sich um und sah, wie Asren aus dem Haus trat. Er wirkte jung und frisch, so wie damals, als sie sich in ihn verliebt hatte. Vazyllanne lächelte und packte Asrens Hände. Er blickte zu ihr herab und sah sie fragend an. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und schlang ihre Arme um seinen Hals. Er erwiderte ihre Umarmung und näherte sich vorsichtig ihrem Mund. Sie ließ es geschehen, und genoss es, Asren endlich wiederbelebt zu haben.

Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)Onde histórias criam vida. Descubra agora