~Nadińe~

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Er wandte sich von dem hohen Fenster ab und zog sich seine Kapuze tief ins Gesicht, damit niemand seine Ohren erkennen konnte. Sie waren lang, edel und spitz zulaufend. Elfenohren. Und wenn jemand seine Ohren sah, dann würde seine Herrschaft enden. Der dunkle Lord trat zurück in seinen Thronsaal. Die blutroten Kerzen warfen angenehmes Licht auf die schwarzen Wände. Er zischte ein Wort der Macht und augenblicklich züngelten alle Flammen in die Höhe und der Saal wurde in gleißend helles Licht  getaucht. All die Runen an den schwarzen Wänden wurden lesbar, all die geheimen Zauber. Der dunkle Lord trat an die verhangene Wand. Er freute sich auf das, was nun kommen würde. Er bückte sich und nahm das Seil in die Hand, das den Vorhang löste, wenn man daran zog. Mit einem leichten Ruck fiel das schwarze Tuch zu Boden und der dunkle Lord sah ihn. Seinen Drachen.

Canad war etwa zwölf Schritt lang, gemessen von Schnauze bis Schwanzende. Seine mächtigen Flügel maßen jeweils sieben Schritt. Sie würden ihn bis zum Horizont tragen. Das schwarze Leder zwischen den dünnen Knochen im Flügel war dick, nur Pfeile, geschossen aus kurzer Distanz, konnten diese Haut durchtrennen. Canads Schuppen rasselten wie Kettenhemden, als er seinen Kopf hinab zu dem Lord beugte und ihn mit seinen weißen Augen anstarrte. Die geschlitzten Pupillen machten das Auge unnahbar und ließen es gefährlich erscheinen. Canads Mundwinkel waren nach oben gehoben, stets sah es so aus, als würde der Drache spöttisch lächeln. 

Der dunkle Lord legte eine Hand auf die Schnauze seines Drachen. Kleine Rauchwolken stiegen auf. Er verharrte lange vor seinem Drachen und hatte seinen Geist geöffnet. Sie waren nun nicht nur körperlich sondern auch geistig verbunden. Der dunkle Lord spürte nur allzu deutlich den Hunger seines Drachen, den Durst nach Blut und der Lust nach frischem Fleisch. Er spürte, wie das Herz seines Drachen immer wieder das Blut durch den Körper pumpte, wie sich seine Brust mit jedem Atemzug hob und senkte. Der dunkle Gebieter lachte leise und sah hinauf zu der Decke. Er hob die Arme und schloss die Augen. Er wusste, dass sich genau in diesem Moment die Runen an den Wänden silbern verfärbten. Sie halfen bei seinem Zauber. Mit lautem Getöse riss die Decke auf und der graue Himmel kam zum Vorschein. 

 Canad stieß einen tiefen, summenden Ton aus. Der dunkle Herr lachte laut und stieg auf seinen Drachen. Er spürte, wie sich all Canads Muskeln anspannten und dann hob der Drache ab. Mit schnellen, starken Flügelschlägen erhob sich Canad und verließ den Thronsaal. Der dunkle Herr sah nun durch die Augen seines Drachen. Ungewöhnlich scharf nahm er alles wahr. „Warum?", fragte Canad. Seine angenehm tiefe Stimme hallte in dem Kopf des dunklen Herrschers nach. ‚Lass dich überraschen', erwiderte er und musste lächeln. Er war allzu lange nicht mehr geflogen! Es wurde mal wieder Zeit. Canad gab einen zustimmenden Laut ab, dann ließ er sich von dem dunklen Gebieter leiten. Durch die zwei Hörner auf Canads Haupt suchte der Herr der Gracker die Umgebung ab. Direkt unter ihnen musste er sein! Der Schlüssel zur Weltherrschaft!

Die Erde stob auf, als Canad landete. Der dunkle Herrscher sprang ab und umrundete den riesigen Fels. Hier musste sie sein! Nadińe! Sie war die Mutter aller Drachen. Sie hat die Eier ausgebrütet, sodass jetzt, nach vielen Jahrzehnten, immer noch neue Drachen schlüpfen konnten. Doch die Götter dieser Welt hatten Nadińe zu mächtig gemacht. Nadińe war eine starke Drachendame gewesen, sie hatte überall gewütet und dort, wo sie gewesen ist, hatte man nur noch Chaos und Tod aufgefunden. Und sie war so stark gewesen, dass niemand sie hatte töten können. Auch nicht die Götter.

Also hatten sie Nadińe in einen ewigen Schlaf verbannt. Und er, der dunkle Herrscher, wollte diesen ewigen Schlaf nun brechen. Er hatte alles, was er brauchte. Einen starken Geist und viel Magie. Er nahm den Beutel mit all den magischen Steinen, die er angefertigt hatte, und legte sie an den Fels. Jeder Stein berührte zwei andere und jenen, in dem der Körper Nadińes lag. Canad hob vom Boden ab und setzte sich auf den großen Stein. Er senkte sein Haupt und spie eine kleine Flamme. Sofort fingen die magischen Steine Feuer und der dunkle Herr bewegte stumm seine Lippen. Er spürte, wie die Magie nach seinem Inneren griff. Eine kalte Hand legte sich um sein Herz und doch hörte der dunkle Herr nicht auf, seinen Zauber zu sprechen. Seine Brust schmerzte, Kälte griff nach allem, was er besaß.

Tau lag auf seinen blauen Lippen, seine Wimpern waren weiß vor Eis. Und dann war alles vorbei. Die Kälte fiel von ihm ab wie ein Kokon. Ein Knarzen erklang und Canad flog erschrocken auf. Risse bildeten sich in dem Fels, auf dem der Drache gesessen hatte. Gebannt verfolgte der dunkle Gebieter die Felssplitter, die sich lösten und zu Boden fielen. Eine riesige Gestalt erhob sich in den Splittern und schrie heiser in die Nacht hinaus. Fünfzehn Schritt lange Flügel breiteten sich aus und schlugen wild. Der dunkle Herr senkte sein Haupt und fiel auf die Knie. Ein Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus. Er hatte es geschafft, er hatte Nadińe befreit! Flammen erhellten die Nacht und als der dunkle Lord wieder sein Haupt hob, sahen ihn zwei silberne Augen an. 

Nadińe hatte ein weißes Schuppenkleid, die Flammen ließen es in allen Regenbogenfarben schillern. „Ich danke dir, mein Held", erklang eine tiefe Frauenstimme. Sie war unwirklich. Man hörte, dass Nadińe eine Drachendame war, und dennoch konnte diese Stimme niemand nachahmen, weil sie so tief war. Der dunkle Herr lächelte und erhob sich. ‚Ihr habt Euch nicht zu bedanken. Ich tat nur, was ich tun musste. Ihr habt es nicht verdient, eingeschlossen zu sein. Ihr solltet all Eure Macht entfalten können', erwiderte er. Nadińes Mundwinkel hoben sich nach oben. ‚Ich bitte Euch, rächt Euch mit mir an all jenen, die Euch helfen konnten, aber nichts getan haben', fuhr der dunkle Lord fort. Nadińe hob ruckartig ihren Kopf und schrie herausfordernd in den Himmel. „Sie sollen lernen, was es heißt, gegen mich zu kämpfen!", rief sie mit vor unterdrücktem Zorn zitternder Stimme. Dann erhob sie sich mit wilden Flügelschlägen und war später nichts weiter als eine Erinnerung.

Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)Where stories live. Discover now