~Das Böse und das Gute~

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„Rückzug! Rückzug!", schrie Laurentius. Hektisch sah er sich um. Er war mit seinen Kriegern aus dem Norden abgezogen und half im Süden aus, wo die Macht der Gracker am stärksten war. Nur etwa dreihundert Elitekrieger waren im Norden zurückgeblieben. Laurentius winkte alle seine Kämpfer zu sich. Auch die Zwerge und die Elfen aus Daulinien befahlen den Rückzug. Der erste Stadtring war eingenommen. Es blieb ihnen nur ein Zweiter. Dann würden die Gracker auf das Stadtinnere stoßen. Die Krieger rückten ab, sie liefen panisch durch das Tor hinter dem sicheren Wall. 

„Wir können das Tor nicht mehr lange halten!", schrie ein Elf mit blondem Haar zu Laurentius. Der Elfenkönig stand auf dem Wehrgang und wartete ungeduldig, bis all seine Krieger in Sicherheit waren. Dann würde er gehen. „Verlass deinen Posten, Krieger, und flüchte in den inneren Stadtring!", erwiderte Laurentius. Seine Augen rasten über die feindlichen Truppen. Es war eine Schlacht wie aus einem Alptraum. Alles geriet außer Kontrolle. Asran hatte sich zurückgezogen, um um Ergon zu trauern. Athavar war gestorben, weil er Nadińe getötet hatte. Navést und Grorphil waren im Heillager. Um den Zwerg stand es gut, doch der Göttin fehlte etwas. Niemand wusste, was. 

„Mein Herr, Ihr müsst jetzt auch den Wehrgang verlassen. Die Situation wird brenzlig!", sagte ein braunhaariger Elf eindringlich. Laurentius nickte und folgte ihm. Er wurde durch das Tor gezerrt und sofort versammelte sich seine Elite um ihn. Das Tor wurde zugeknallt, Riegel vorgeschoben. Durch einen Spalt sah Laurentius die Gracker in den ersten Festungsring stürmen. Sie hoben die Waffen und jubelten. Laurentius ballte in hilfloser Wut die Hände. Es war so ungerecht verteilt. Zwar war Nadińe tot, doch Canad lebte. Und der dunkle Herr auch. Flammen erhellten die Nacht, ungünstige Winde ließen Pfeile gefärhlich werden, Wasser prasselte auf sie nieder und Gewitter grollten durch den Himmel. Der dunkle Lord bediente sich an der Macht der Amulette, das stand fest. Aber vielleicht gab es einen kleinen Funken Hoffnung, der, einmal entzündet, ihnen wieder den Mut zum Kämpfen verlieh. 

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Asran stand an eine Mauer gelehnt. Er hatte sich in einen Umhang gehüllt, das Gesicht tief unter der Kapuze verborgen. Langsam drehte er sein Schwert in den Händen. Das Feuer, das überall herrschte, spiegelte sich auf der blanken Klinge. Er fühlte sich verloren, im Stich gelassen. Er hatte keine Motivation mehr, wollte nur noch alleine mit sich sein. 

Er hörte ein Geräusch. Hufgetrappel. Er hob den Kopf und sah eine weiß gewandete Frau auf einem Schimmel durch die weißen Straßen Dauliniens reiten. Ihr schneefarbenes Kleid floss ihr bis zu den Knöcheln, leicht wehte es im Wind. Ihr blondes Haar glänzte silbrig und golden, unwirklich. Ihr schmal geschnittenes Gesicht war trotzig erhoben, ihre Augen geschlossen. Licht umfloss sie und ließ ihr Auftreten würdevoll erscheinen. Vazyllanne. Asran löste sich aus dem Schatten der Mauer und sah ihr zu, wie sie langsam daher ritt. Sie war das Gegenteil von ihm: er war der Schatten, sie das Licht. 

Plötzlich wandte Vazyllanne den Kopf und sah ihm genau in die Augen. Ihr Blick war durchdringend. Sie lächelte nicht. Asran ging zu ihr und nahm seine Kapuze vom Kopf. Immer noch musterte Vazyllanne ihn. Ihr Blick legte sich auf seinen Hals. Er folgte ihm und sah das grüne Amulett hell aufblitzen. Er hob seinen Blick wieder und sah Vazyllanne an. Sie schloss die Augen und schien zu überlegen, dann sagte sie: „Dunkelheit zieht über meine Stadt. Ich bin nicht befugt, nur zuzusehen, wie die Stadt der Lichter vergeht." Sie saß ab und trat vor Asran. Sie fuhr über seinen Nacken und erfasste das Lederband, an dem das Amulett hing. Sie warf ihm einen fragenden Blick zu und er nickte. Mit einem Ruck hielt sie die Kette mit dem magischen Stein in der Hand. „Ich werde mich mit all meiner Macht Asren entgegenstellen", sagte sie. „Du hast von Anfang an gewusst, dass es mein Vater war", sagte Asran heiser und sah sie an. Sie wich seinem Blick nicht aus. „Es hätte dir nur geschadet", erwiderte sie, saß wieder auf und setzte ihren Weg fort. 

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Laurentius nahm einen der Steine und legte ihn in die Schlaufe des Katapultes. Er tat einen Schritt zurück und die beiden Zwerge an der Kurbel begannen zu drehen. Das Katapult spannte sich, dann flog der Stein in den ersten Festungsring. Einer der Zwerge lachte und deutete auf das große Loch, das das Katapult in der Menge der Gracker hinterlassen hatte. Laurentius schüttelte den Kopf. Er würde die Zwerge nie verstehen. 

Plötzlich öffnete sich das Tor zum Inneren der Stadt und heraus kam eine weiße Gestalt auf einem stolzen Schimmel. Licht umflutete sie und ließ sie erhaben wirken. Vazyllanne. Laurentius konnte es sich nicht erklären, aber Hoffnung überkam ihn. Vazyllanne war einst eine große Kriegerin gewesen. Der Elfenkönig ging hinab in den Hof, um sicher zu gehen, dass ihn seine Augen nicht betrogen. Vazyllanne war wirklich gekommen. Über ihren Schatten gesprungen. Sie stellte sich dem Bösen. Endlich!

Alle Augen schienen auf ihr zu liegen. Sie war eine schöne Frau, das musste man ihr lassen. Sie saß ab und blickte in den Himmel. „Asren, ich rufe Euch! Euer Geist ist verseucht, aber dennoch werdet Ihr die Vergangenheit nicht vergessen haben!", rief sie und Laurentius stockte der Atem. Plötzlich wurde ihm kalt. Eisige Böen wehten ihm ins Gesicht. Er weigerte sich, zurück zu blicken, als er das Geräusch von Flügelschlägen vernahm. Aber er konnte dem Drang nicht widerstehen. Langsam drehte er sich um und bereute es sofort. Direkt hinter ihm stand er. Der dunkle Lord. Er hielt Canad an langen, schwarzen Zügeln und wurde von den Morslorden flankiert. Daher also die Kälte. 

„Du stehst im Weg", zischte der dunkle Lord und Laurentius ging einen Schritt zur Seite. Es war dumm, wenn er nicht gehorchen würde. Aller Lärm war verstummt. Die Gracker draußen vor dem Tor, die Elfen, Menschen und Zwerge in der Festung. 

Jetzt standen sich Vazyllanne und der dunkle Lord gegenüber. „Ihr habt etwas, was mir gehört, Vazyllanne", sagte der dunkle Lord und die Elfenkönigin entgegnete: „Lassen wir doch die Höflichkeiten, Asren. Wir beide kennen uns so gut wie sonst niemand. Schließlich haben wir einen gemeinsamen Sohn." Laurentius' Blick wanderte zwischen ihnen hin und her. Taten sie das aus Absicht? War Vazyllanne eine Verbündete des dunklen Lords? Und war der dunkle Lord wirklich Asren? Konnte es sein, dass der Wahn ihn gepackt...? 

Der dunkle Lord lachte. Er nahm die Kapuze vom Kopf und Laurentius sah in das Gesicht jenen Mannes, dessen Thron er damals geraubt hatte. Es stimmte. Der dunkle Lord war Asren. Plötzlich änderten sich Vazyllannes Gesichtszüge. Ihre weiße Haut wurde grau, ihre Haare schwarz. Auch ihr Kleid wurde dunkel, ihre Iris war nicht mehr braun, sondern besaß die Farbe von Asche. Vazyllannes Hand zitterte, als sie einen Gegenstand aus einer verborgenen Tasche ihres Kleides hervorzog. Es war das grüne Amulett. 

Pflanzen schossen aus dem Boden und ergriffen Asrens Füße. Sie wanden sich an seinen Beinen nach oben und rissen den dunklen Lord zu Boden. Vazyllanne zog das Schwert des Kriegers, der ihr am Nächsten stand. „Sterben sollst du, du Biest!", zischte sie und setzte es an die Kehle Asrens. Ihre Stimme war tief. Unwirklich. Asren lachte. „Du vergisst etwas", sagte er und tiefe Traurigkeit spiegelte sich in seinen Augen. „Gib mir das Amulett! Gib mir das, was mir gehört! Ich werde es vernichten! Du vergisst, weshalb ich zu dem Biest geworden bin! Das alles war nur wegen ihm! Er will die Welt besitzen! Ich kann nicht anders! Ich bin schon lange verseucht, der schwarze Fleck hat fast meinen ganzen Körper eingenommen. Ich höre ihn immer als eine Stimme, einen Gebieter, dem ich gehorchen muss! Asrans Fleck ist noch klein, aber er wird sich auch bei ihm ausbreiten! Er wird auch unseren Sohn einnehmen! Töte ihn und töte seinen Sohn! Asran und Lyvaron müssen sterben!"

Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)Where stories live. Discover now