~Die Verteidigung im Norden~

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Navést rief die Elfenkrieger zu sich. Die feindliche Front rückte immer näher. Wie eine braune Welle kam sie auf sie zu. 

„Nehmt eure Posten ein!", schrie Navést und die Krieger, die Laurentius mit sich genommen hatte, stellten sich in einer langen Reihe auf den Wehrgang. 

„Anlegen!", befahl Navést kühl und die Pfeile wurden auf die Sehnen gelegt. Die Göttin wartete, bis die Gracker in ihre Schusslinie liefen, dann schrie sie: „Feuer!" 

Jeder einzelne Pfeil fand sein Ziel. Dutzende Gracker fielen. Und doch waren es noch so viele Feinde, die auf sie zu einstürmten. Es mussten beinahe zweieinhalb Tausend sein! 

„Anlegen!", schrie Navést erneut. Sie wusste, dass sie überrannt werden würden und es für sie keinen Ausweg geben würde. Und dennoch wollte Navést die Krieger aus Daulinien nicht auf Knien anflehen, dass sie ihnen helfen sollten. Vazyllanne scherte sich nicht um die, die den Tod fanden. Sie scherte sich nur um die Vergangenheit, um die Helden, die damals verloren gingen. Sie war keine Hilfe, nur eine Beteiligte. Sie war wie die Luft um Navést herum. Anwesend, aber tatenlos. 

„Feuer!", schrie Navést und erneut fielen ein paar Gracker. Aber es waren so wenige. Es war aussichtslos. 

Navést öffnete ihren Geist. Sie würde Magie weben, so wie damals, als sie sich in den Kampf der Elfen und Menschen eingemischt hatte. Es waren damals so viele gestorben, der Krieg der beiden Völker hatte sich auf die Götter ausgetragen. Auf diese Weise war Navést eine von wenigen Göttern gewesen, die überlebt hatten. Weil sie zu ihren Erschaffenen gehalten hatte, hatte Navést sämtliche ihrer Geschwister in den Tod gestürzt. Sie war die gewesen, die Schuld an den Gefallenen ihrer Geschwister hatte. Einzig sie! Hätte sie keinen Rat einberufen, wäre all dies nicht geschehen! Der dunkle Lord wäre nie an die Macht gekommen, die Amulette nie erschaffen! Es hätte nur noch die Magie der Götter gegeben!

Navést inspizierte ausführlich die leuchtenden Netze. Jedes Lebewesen und jeder Gegenstand besaß eine Aura, die wie ein Fischernetz um den Besagten lag. Früher, in alten Zeiten, hatte man geglaubt, dass es verschiedene Arten der Auren gab. Die verschiedenen Farben hatten angeblich auf den Charakter hingedeutet und darauf, wie die Person war. Stark, machtvoll oder eher schüchtern und weise. Jetzt aber, lange Zeit später, wussten die Elfen, was die Farben der Auren wirklich bedeuteten: Sie spiegelten die Emotionen der Beteiligten wieder. So wie grün die Farbe des Glücks war, war rot die Farbe des Zorns und schwarz die Farbe des Misstrauens. 

Navést spürte plötzlich Gestalten hinter sich. Sie schloss die magische Sicht und suchte das, was sie eben gesehen hatte. Vor ihr hatten sich die Elfen aus dem Moraldwald in langen Reihen aufgestellt und ihre Schwerter gezogen. Und hinter ihr rückten weitere Truppen an. Sie trugen silbern schillernde Rüstungen, blank polierte Schwerter und glänzende Helme. Die Krieger aus Daulinien.

Im Gegensatz zu den naturverbundenen Elfen des Moraldwaldes, die naturfarbene Kleider und verborgene Rüstungsteile trugen, waren die Elfen aus Daulinien ihrer Pracht verpflichtet. Stets zeigten sie sich in all ihrem Reichtum und ihrem Glanz. Ihrer Vollkommenheit. Und der Anführer der Elfen, die zu ihnen gekommen waren, trug einen blauen Gürtel um seine Taille. Nincoril ist ihnen zur Seite gesprungen. Vazyllanne war zur Vernunft gekommen.

„Verliert nicht euren Mut, ihr stolzen Krieger des Laurentius! Eure Verbündeten aus Daulinien stehen hinter euch! Gemeinsam seid ihr unbesiegbar!", schrie Navést lächelnd und hob ihr Schwert. Sie sah, dass sich wieder Mut in den Gesichtern der Krieger zeigte. Die Krieger aus Daulinien rückten an die Reihe der Kämpfer von Laurentius und gaben ihnen Rückendeckung. Sie zogen ihre Schwerter und empfingen die Gracker mit starren Gesichtern.

Navést eilte an das Sprechrohr. Ihr Herz war leicht geworden, sie fühlte sich, als würde sie wie damals mit ihren Geschwistern trinken und lachen. Noch nie war sie ihrem Volk so nahe gewesen. Sie zog den Pfropfen aus dem Rohr und fragte über den Schlachtenlärm hinweg: „Navést aus dem Norden. Situation unter Kontrolle. Wie ist es im Süden? Ende." Sie wartete ab, erhielt aber keine Antwort. Erneut fragte sie und wieder erntete sie Schweigen. Erst, als Navést zum sechsten Mal neu ansetzte, erhielt sie Antwort. 

„Ich weiß ja nicht, wer du bist, Püppchen, aber im Süden verliert ihr!", erwiderte eine raue Stimme. Navést hielt vor Schock den Atem an. Das war kein Zwerg! Und auch kein Mensch! Das war ein Gracker! Navést blickte noch einmal zu Nincoril und seinen Kameraden. Sie würden den Wehrgang halten! Sie konnte gehen, ohne dass die Situation aus dem Ruder lief!

Plötzlich zog ein Schatten über sie. Sie blickte nach oben und sah einen weißen Schwanz über sich gleiten. Sie hielt inne. Das konnte nicht sein! Navést hatte sie doch mit ihren Geschwistern in einen ewigen Schlaf verbannt. Niemand hatte sie retten können! Navést schluckte. Es schien, als würden sie wirklich untergehen. Wenn es stimmte, was sie befürchtete, dann hatten die Zwerge, die Menschen und die Elfen nur noch die Wahl, wie sie untergehen würden. Wenn der dunkle Lord es wirklich geschafft hatte Nadińe zu befreien, dann war die Welt sein Eigentum.

Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)Where stories live. Discover now