~Das Zwergenbanner~

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„Romak, der Name der Festung, in der die stärksten Menschenkinder hervorgehen", sagte Grimbold und ließ seine Zügel fallen. Drignum ritt an des Königs Seite und blieb wie er stehen. Ihre beiden Blicke ruhten auf dem großen, pechschwarzen Teich in dessen Mitte sich die Menschenstadt erhob. Ein paar Ruderschiffe suchten verzweifelt den richtigen Weg. Das eine wurde von einer unsichtbaren Strömung immer weiter abgetrieben, bis es an einem Treibholz hängen blieb, das sich an einem der Steine verkantet hatte. Das Ruderboot, das nun aus dem Gleichgewicht war, erhob sich mit der Spitze, als wolle der Bug den Himmel küssen. Goldene Münzen fielen aus einem Beutel und rasselten mit leisem Plätschern in den See. Der Menschensohn, der das Boot gesteuert hatte, ruderte mit den Armen und begann das Wasser mit einem Kelch aus dem Boot zu schaufeln, was ihm schließlich missglückte und er kopfüber in die Fluten sprang. Kurz nach seinem Sprung verfärbte sich das Wasser ein wenig rot, dann ging das Schiff unter und das Blut des Menschen verdünnte sich mit dem See. Drignum verzog keine Miene, als sich Grimbold umwandte. Dann sagte der Zwergenkönig: „Wir werden auf eine Fähre warten müssen. Nur wenige Schiffe können dieses Gewässer überqueren. Lass uns hinab Drignum. Bei Zenit fährt das nächste Schiff über."

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„Wer seid ihr?", fragte der junge Knabe in der verwitterten Holzhütte, die als Wachanlage erbaut worden war. Drignum sah missbilligend zu dem Menschen hinauf. „Wer bist du, dass du den König der Zwerge und somit Freund des Athavar, deines Herrschers, nicht erkennst?", entgegnete der Zwerg giftig. Die Augen des Jungen wurden groß. „Seid Ihr...?", fragte er dann und fiel auf die Knie. Grimbold trat zu ihm, blickte ihm fest in die Augen und sagte mit seiner Bassstimme: „Ja, ich bin der Herrscher der Zwerge und ich erwarte unverzüglich hinüber geleitet zu werden. Ich habe eine dringende Botschaft an Obsukrin." Das Menschenskind nickte heftig, dann erhob es sich eilig und rannte auf eine große Fähre zu. Da redete es mit einem anderen Wächter, rief ihnen zu und betrat das Wassergefährt. Drignum wartete auf den Befehl seines Königs. Erst als dieser nickte, folgte er Grimbold

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Als die beiden Zwerge das andere Ufer erreicht hatten, wurden sie ohne Umwege direkt zu dem Thronsaal geführt. Die wenigen Stadtbewohner musterten sie scheu. Wie stolze Kriegshelden kamen die beiden Zwerge in die Stadt: In langen, klirrenden Kettenhemden gekleidet und mit verzierten Äxten. Drignums Blick suchte die Menge ab. Gab es hier welche, die sich zu unauffällig benahmen, um unauffällig zu sein? Gab es Meuchler, die darauf warteten, Grimbold mit einem Pfeil zu erschießen oder einen Dolch auf ihn zu werfen. Wenn ja, dann wäre es sein Auftrag, Grimbold zu retten. Es wäre sein Auftrag, sich in die Wurfbahn zu stellen und sein Leben für seinen König zu lassen. Grimbold lachte leise und legte eine seine Hände auf Drignums Brust. Drignum wusste, dass Grimbold ahnte, was er selbst dachte. 

Die Torflügel öffneten sich und Obsukrin eilte ihnen entgegen. Sein blonder, geflochtener Bart endete in zwei Zöpfen, Sorgenfalten beherrschten sein Gesicht. Ein dunkles Lederwams und eine alte, grüne Hose rundeten sein Aussehen ab. Der Thronhalter Romaks sah aus, als hätte man ihn aus dem Schlaf gerissen. Ehrfürchtig senkte er den Blick und hockte sich auf ein Knie. Donnernd wurden die Tore zugeschmettert, dann trat Stille ein. Grimbold beachtete den knienden Menschensohn gar nicht, sondern trat an eine der Wände. Dort schritt er die Banner ab, sein Blick verweilte auf dem der Elfen etwas länger als auf den anderen und doch blieb der Zwergenkönig nicht stehen. Erst als er vor dem leuchtend roten Banner der Zwerge ankam, verharrte Grimbold.

Lange musterte der Zwerg die eindrucksvolle Axt auf jenem Untergrund, der aussah, als würden Feuerzungen in höchster Stichflamme wie Blumen erblühen. Immer noch herrschte Schweigen, Obsukrin hatte sich erhoben und mit gerunzelter Stirn Grimbolds Bewegungen verfolgt. Plötzlich ergriff der Zwergenkönig den Griff seiner Axt, zog sie hinaus und spaltete das Banner der Zwerge entzwei. Ein großer Riss klaffte nun genau auf dem Stiel der Axt. Obsukrin hatte die Augen erschrocken aufgerissen. Grimbold drehte sich zu ihm und steckte seine Axt zurück in seinen Gürtel. „Wir ziehen in die Schlacht. In die Schlacht der Elfen und Menschen, in der es nur auf die Stärke ankommt, nicht auf den Geist. Es wird ein ehrloser Kampf: Jeder will überleben und wagt dafür die gefährlichsten Intrigen. Aber wer ein Meister der Waffenkunst ist, weiß, dass es nicht auf die Krieger ankommt, sondern auf den Feldherren, der sie führt. Selbst die besten Krieger könnten mit einem falschen Plan allesamt sterben", sagte der Zwergenkönig.

„Warum seid Ihr gekommen?", fragte Obsukrin und Grimbold antwortete: „Die Elfen baten um unsere Hilfe. Sie sind ein schwaches Volk geworden. Ich kann mich nur allzu gut an jene Geschöpfe erinnern, die vor Jahrhunderten auf großen Rössern und in seidenen Gewändern untereinander getanzt hatten. Sie tanzten merkwürdig, fast so, als wären sie Bäume und der Wind würde zwar ihre Kronen, nicht aber ihren Stamm bewegen. Ich sang und tanzte mit ihnen, bis sie sich in jenen Krieg einmischten. Das ist die Schwäche der perfekten Lebewesen, sie kennen keine Grenzen. Gracker wurden bekannt, Gespräche über sie machten ihre Runden. Die Elfen und wir Zwerge waren uns einig, dass man die Gracker vernichten müsse, ehe sie sich ausbreiten konnten. Doch anstatt direkt anzugreifen wollten die Elfen den Grackern eine Falle stellen. Wir Zwerge wollten ihnen dabei nicht helfen. Das Risiko war zu groß. Am besten hätte man die Gracker einfach sofort angreifen sollen! Damals waren unsere Völker, die Elfen und die Zwerge, stolze Freunde, bis uns die spitzohrigen Bastarde überredeten, mit ihnen zu kämpfen. Wir mussten viele Verluste ausgleichen und selbst heutzutage fehlen uns all die gefallenen Krieger. 

Und dann kam Asran. Er ist anders, als die anderen Elfen. Wenn er etwas sagt, so hört es sich ehrlich und aufrichtig an, nicht so gestelzt, wie die anderen seiner Art reden. Er hat ein gutes Herz und so war ich gezwungen, ihm ein Heer zu geben, wenn ich wiederum seinen Sohn erhalte. Als Asran dem zustimmte, wusste ich, dass es richtig war, diese Entscheidung zu treffen. Doch allein das Heer der Zwerge und die Streitmacht der Elfen reicht nicht aus, um das Dunkle zu besiegen. Wir brauchen eure Reiter aus Romak!" 

Obsukrin schlug mit blanker Faust auf eine der hellen Holzsäulen, die die Decke des Saals trugen. „Nein!", sagte der Thronhalter bestimmt. „Ich weiß nicht, ob Ihr, König Grimbold, schon von den Verlusten erfahren habt, die wir an der Ruine von Taebryn einstecken mussten, aber durch diesen Zwischenfall habe ich fast mein gesamtes Heer verloren. Nur die besten der Jüngsten sind zurückgekehrt! Die Gracker haben uns förmlich überrannt!", fuhr er wütend fort. Grimbold sah von seiner Axt auf, die er während des Gespräches interessiert gemustert hatte. „Ich erfuhr von dem Unglück und doch befahl Athavar, König von Romak und somit dein Gebieter, dass du all deine Truppen sammeln sollst und sie unserem Kommando übergeben. Drignum, zeig ihm den Brief", sagte er und des Königs Diener holte die Pergamentrolle aus seinem Umhang. Wortlos überreichte er sie Obsukrin, der das Siegel brach und schweigend den Brief las. Als er fertig war, ballte er seine freie Hand und zischte: „Verdammter Pferdemist!"

Eine Weile lang herrschte erneute Ruhe, dann fragte Obsukrin: „Wieso habt Ihr das Banner der Zwerge zertrennt?" Grimbold wandte sich an die rote Flagge, dann sagte er mit einem Hauch von Wehmut: „Dieses Banner bedeutet nichts mehr. Wenn wir mit den Elfen, den Menschen und den Zauberern zusammen kämpfen, dann ist die Flagge der Zwerge nichts weiter als ein Abbild meiner Axt. Ein Abbild, das noch nicht einmal von uns Zwergen geführt werden kann, weil es den Stolz der Elfen und das Herz der Menschen verletzt."


Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)Место, где живут истории. Откройте их для себя