2. Kapitel

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Ohne länger darüber nachzudenken, zog ich Tilo in eine enge Umarmung. Ich spürte, wie verspannt seine Muskeln waren und wie sehr in das Verschwinden seiner Schwester mitnahm. Nämlich mehr, als er wirklich zugab. 

Aber mittlerweile kannte ich ihn zu gut, ich merkte, wenn etwas nicht stimmte. Ich würde ihm so gerne helfen, aber ich wusste nicht wie. Ich wusste einfach nicht, was ich machen konnte.

Konnten wir überhaupt irgendwas machen? Lag nicht alles in den Händen der Polizei?
Natürlich könnten Tilo und ich ins Auto steigen und ziellos durch die Stadt fahren, mit der Hoffnung, seine kleine Schwester zufällig irgendwo zu finden. Das könnte funktionieren, wenn sie einfach nur verschwunden wäre und sich verlaufen hätte. Aber das hatte sie nicht. 

Zwar hatten wir keine offizielle Bestätigung dafür, dass sie entführt wurde, aber alles deutete darauf hin. Und es war einfach nur schrecklich, an so etwas zu denken.

"Am liebsten würde ich dämlich durch die Stadt fahren und sie suchen", murmelte Tilo leise und ich schloss meine Augen. Ja, ich verstand ihn. Genau diesen Gedanken hatte ich gerade ja auch schon durchgespielt.

"Ich weiß. Aber meinst du, es würde etwas bringen?" Ich legte ihm meine Arme in den Nacken und beugte mich ein bisschen nach hinten, um ihm besser in die Augen gucken zu können. Er hatte seine großen, warmen Hände auf meinem Rücken liegen und drückte meinen Körper soweit es ging gegen seinen.
"Nein. Aber ich kann das Gefühl nicht ertragen, hier einfach nur rumzustehen und nichts zu tun. Wer weiß, was sie gerade jetzt in diesem Moment mit ihr anstellen..." Prompt bekam ich eine Gänsehaut, ich wollte es mir gar nicht so genau vorstellen.

Kraftlos ließ ich meine Arme sinken und wandte mein Gesicht ab, weil ich den Schmerz in seinem Blick einfach nicht mehr ertragen konnte.

Momentan fragte ich mich, wie ich es schaffte, noch halbwegs klare Gedanken zu fassen und nicht in Panik auszubrechen. War es vielleicht, weil ich wusste, wie hilflos wir waren? Oder wollte mein Verstand immer noch nicht akzeptieren, dass ich das hier nicht nur träumte, sondern dass es die brutale Realität war? So genau wusste ich es nicht, aber wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem.

Der Hunger war uns beiden endgültig vergangen. Geplant hatten wir, schön romantisch essen zu gehen. Stattdessen hatte ich eine halbe Stunde später eine Packung Käsestangen als Chipsersatz auf den Knien stehen und starrte die weiße Wand hinter dem Fernseher an. Zwar war der Fernseher eingeschaltet, aber ich verstand von dem Film absolut gar nichts, mit meinen Gedanken war ich ganz woanders.

Ich bekam nämlich, wie Tilo es prophezeit hatte, ein schlechtes Gewissen, hier zu sitzen und diese verdammten Käsestangen in mich hineinzustopfen, anstatt irgendwas zu unternehmen. Mit dem Wissen, dass die kleine Mia irgendwo vermutlich allein eingesperrt war. Es wäre ihre erste Nacht in Gefangenschaft. Es musste grausam für sie sein.

Mit der Zeit steigerte ich mich immer mehr in diese Tatsache hinein und mir verging gewaltig der Appetit.

"Ich gehe ins Bett", verkündete ich schließlich resigniert. Vielleicht würde ich ja schlafen können und dann wäre das schlechte Gewissen hoffentlich weg. Tilo brummte irgendwas vor sich hin, ich verstand kein Wort.
Ich fragte aber auch nicht nach, weil ich sah, dass er sehr mit sich selbst beschäftigt war. Also stand ich auf, stellte die restlichen Käsestangen auf dem Couchtisch ab und verzog mich ins Badezimmer. 

Schließlich bettfertig schlurfte ich ins Schlafzimmer und ließ mich der Länge nach auf das Bett fallen. Ich fand keine Motivation dafür, mich zuzudecken. Ich starrte lieber die Decke über mir an. Und zwar so lange, bis auch Tilo das Zimmer betrat und mich auf meine Seite des Bettes schob, damit er sich ebenfalls hinlegen konnte.

Sacrifice - Don't touch herWo Geschichten leben. Entdecke jetzt