Kapitel 1 - Der Alte und der Neue

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"Na, wie geht es Ihnen heute?", erkundigte sich mein Chef, als er freudestrahlend in das triste Vorzimmer trat, welches mein Arbeitsplatz war. Es gab hier nicht einmal ein Fensterbrett, welches ich mit ein paar Pflanzen aufhübschen könnte.

Die Tatsache, dass mein Highlight der Woche darin bestand, dass ich meine Stempelkarte beim Bäcker endlich komplettiert und dadurch einen Gratiskaffee ergattert hatte, sprach wohl für sich.

"Gut", antwortete ich routiniert und ließ mir die Monotonie meines Lebens nicht anmerken.

Wenn Leute erfuhren, dass ich bei der Polizei arbeitete, nahmen sie für gewöhnlich an, dass mein Leben an Spannung kaum zu überbieten war. Bildern aus Krimis und Thrillern ploppten in den Köpfen auf. Doch die Wahrheit war weit davon entfernt, denn in Wirklichkeit sah ich in meinem Alltag weder Schwerverbrecher, noch hatte ich jemals eine Schusswaffe in der Hand gehabt. Stattdessen bearbeitete ich die Post, leitete Urlaubsanträge weiter und meldete Krankmeldungen bei der Personalstelle. Die Höhepunkte meines Alltags waren die Kuchen, die jeder Mitarbeiter an seinem Geburtstag mitbrachte und der attraktive Staatsanwalt, der alle paar Wochen mal bei uns vorbeischaute und sich auf einen kleinen Flirt einließ.

"Wie geht es Ihnen denn an Ihrem letzten Tag vor der Rente?", erkundigte ich mich bei meinem Chef Herr Luschke, über den ich kein schlechtes Wort verlieren konnte.

Auf den ersten Blick würde man meinen, dass er nachts heimlich in den Wald ging, um Kinder zu fressen. E war groß, hatte breite Schultern, einen krausigen Bart und eisblaue Augen, die nicht selten von einem grimmigen Blick umrahmt waren. Doch hinter dieser Fassade steckte ein Mann, der mir zum Geburtstag stets Blumen schenkte und mir einen freien Nachmittag gegönnt hatte, als meine Katze gestorben war. Er hatte Nerven wie Stahl, aber ein Herz aus feinster Schokolade.

"Großartig!", verkündete er und anhand seiner strahlenden Augen hatte man keinen Zweifel an dieser Aussage. "Meine Frau hat mich zur Feier des Tages mit einem Kurztrip nach Paris überrascht. Der Flug geht noch heute Abend. Besser kann man wohl nicht in die Rente starten. Ich werde zwar vieles vermissen, aber es ist jetzt wirklich die Zeit gekommen, um zurückzutreten und mich dem zu widmen, wofür ich in den letzten Jahren einfach keine Zeit hatte."

Die Tatsache, dass er eigentlich erst nächstes Jahr in Rente ging und jetzt schon seinen Abschied aufgrund der massiv angesammelten Überstunden, die er nun abbummelte, feiern konnte, unterstrich, wie sehr er seinen ruhestand wirklich verdient hatte.

"Sie haben es sich auch hart erarbeitet", ließ ich ihn wissen und er wusste genau, dass ich es wirklich so meinte. Zum jetzigen Zeitpunkt zu schleimen, wäre eh zu spät gewesen. Zudem waren wir ein eingespieltes Team und konnten uns durch Blickkontakt mittlerweile hervorragend verständigen.

Herr Luschke war 20 Jahre lang aktiv beim SEK gewesen und hatte vermutlich unzähligen Menschen das Leben gerettet. Auch als Referatsleiter machte er einen unfassbar guten Job. Ich hatte noch nie zuvor erlebt, dass ein Chef von all seinen Mitarbeitern so geschätzt wurde. Nicht ein einziges Mal hatte ich ein schlechtes Wort über ihn reden hören. Lediglich sein Kartoffelsalat, den er immer zum alljährlichen Sommergrillen mitbrachte, war in Verruf geraten und hatte des öfteren in Verdacht gestanden, bei dem ein oder anderen Kollegen den Verdauungstrakt außer Gefecht gesetzt zu haben. Abgesehen davon galt er als äußerst beliebt. Aus diesem Grund würde es heute zur Mittagszeit auch eine Überraschungsparty für ihn geben.

"Sie haben es sich aber auch etwas verdient", sprach er und machte eine Handbewegung, die mir wohl zeigen sollte, dass ich ihm ins Büro folgen sollte. "Na los, nicht so schüchtern", sagte er, als ich zögerte. "Ich habe nichts Schlimmes mit Ihnen vor. Im Gegenteil."

Irritiert folgte ich ihm.

Sein Büro könnte kaum schlichter eingerichtet sein. Und das, obwohl ihm sogar ein Fensterbrett zur Verfügung stand. Das einzige Persönliche, das man in diesem Raum finden konnte, war ein Bild mit seinem Beagle Alfonso. Ansonsten hatte der Raum nicht mehr zu bieten, als weiße Wände, einen höhenverstellbaren Schreibtisch, zwei ergonomische Bürostühle und drei Fenster, durch die man in den angrenzenden Stadtpark schauen konnte. Dort tummelten sich heute beim schönsten Wetter die Menschen dicht an dicht. Kinder sprangen mit pitschnasser Kleidung durch den Springbrunnen und halbnackte Körper sonnten sich auf der angrenzenden Wiese.

Letters from a StrangerWhere stories live. Discover now