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Samstag, 05. Oktober 2019

Unsanft wurde ich von einem Kissen geweckt, dass mitten in meinem Gesicht landete. Ich schreckte hoch. Im ersten Moment war ich desorientiert, bis ich begriff, dass ich nicht zuhause in meinem Bett lag, sondern hier in Noja.

Ich blinzelte und wischte mir den Schlaf aus meinen Augen. "Na los", drängelte Charlies ungeduldige Stimme, "steh auf, jetzt."

Ich schwang meine Beine auf den Boden, blieb aber noch auf der Bettkante sitzen. "Wie spät ist es?" gähnte ich. "Gleich halb elf. Wir haben gestern gar keinen Wecker mehr gestellt, sonst wären wir um halb acht schon auf den Wellen gewesen."

Meine Augen fielen zu. "Gar nichts wären wir. So erledigt wie ich bin, wäre ich bestimmt gestorben." Ich öffnete die Augen wieder und hob meinen Kopf. Charlie stand Oberkörper frei in Flipflops und Badehosen vor mir. Die längeren Haare hingen in sein Gesicht. Er sah gut aus.

"Wirds bald? Den ersten Tag verschlafen kommt gar nicht in Frage." Ich stöhnte, gab mir einen Ruck und watete in das kleine Badezimmer nebenan. Mein Rücken schmerzte. Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, was sehr erfrischend wirkte. Anschliessend fuhr ich mir durch die Haare und betrachtete mich im Spiegel.

Ich sah normal aus, nichts Besonderes. Komplett 0815.

Ich hatte schon immer grosse Selbstzweifel gehabt. Kommt man in einen Raum voller Menschen – ich würde nicht auffallen. Laufen wir uns zweimal über den Weg – man würde mich nicht wiedererkennen. Auf der Strasse würde man mir nicht hinterherblicken. Ich war unscheinbar.

Es polterte an der Tür. "Mach hinne, Dornröschen!"

"Ich brauch zuerst Kaffee", brummte ich.

"Dann lass uns jetzt gleich einkaufen gehen", schlug Charlie vor, als er den Kopf ins Badezimmer reinsteckte – ohne zu fragen. Ich hätte ja nackt - oder anderswertig beschäftigt sein können.

"Wir haben nämlich nichts da ausser eine halb volle Flasche Öl."

In Flipflops, Shorts und T-Shirts schlenderten wir fünf Minuten später die Strassen entlang und hielten Ausschau nach einer guten Einkaufsmöglichkeit. Das Leben der Gemeinde war schon in vollem Gange. Kleinere Gruppen von Jugendlichen waren in Badekleidung auf dem Weg zum Strand und Kinder spielten mit einem Ball und Kreide auf den Strassen herum.

Wir betraten den kleinen Supermarkt, den uns auch schon Señor Sànchez empfohlen hatte. Wir kauften eine gute Grundversorgung ein. Die Klimaanlage in dem Laden lief auf Hochtouren, weshalb ich fröstelte. Charlie stand vor einem Kühlregal rum und suchte sich ein leckeres Eis aus.

Da geschah es.

Mit einem Klingeln öffnete sich die Tür und ein wunderschönes Mädchen trat ein. Sie trug einen gelben Wickelrock und ein weiss gehäkeltes Top, darüber ein schwarzes Hemd, welches ihr viel zu gross war. Ihre hellbraunen Haare fielen ihr in perfekten Wellen elegant über die Schulter. Auf ihrer Nase trug sie eine grosse, Sonnenbrille. Ihre vollen, geschwungenen Lippen lächelten breit.

"Hola querida", sagte der Mann hinter der Theke. Das Mädchen entgegnete etwas in schnell gesprochenem Spanisch, so dass ich keine Chance hatte sie zu verstehen. Die Beiden unterhielten sich laut lachend miteinander. Schliesslich gab ihr der Verkäufer ein Klemmbrett zum Unterschreiben. Danach verliess sie den Laden auch wieder, in ihrem Arm einen grossen Karton.

Sprachlos, mit offenem Mund stand ich da und schaute ihr hinterher.

"Chance verpasst", sagte Charlie und seufzte, als er mir mit der Hand auf die Schulter klopfte.

"Hast du sie gesehen?", fragte ich mit verträumten Augen.

"Jetzt nicht mehr, da sie schon wieder weg ist. Chance verpasst."

Gefährliche Wellen | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt