03 (2020)

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Montag, 05. Oktober 2020

Es regnet und ein beissender Wind fegt um mich herum. Die Wärme kommt mir augenblicklich entgegen, als ich die schwere Eingangstür aufstosse und in das Backsteingebäude eintrete. Ich ziehe mir die nasse, schwarze Mütze vom Kopf, so dass meine dunkelbraunen Haare zum Vorschein kommen. Meine durchnässten Sneakers quietschen schrecklich laut auf dem Marmorboden, der von anderen Schuhen schon ganz nass ist.

Neben dem Aufzug hängt ein Schild mit den dicken, roten Buchstaben «defekt». Ohne mich gross darüber aufzuregen steige ich langsam die steinigen Stufen in den vierten Stock hoch.

Eine junge Frau kommt mir entgegen. «Guten Tag», sagt sie freundlich. «Tag», murmle ich undeutlich zurück. Heute ist kein guter Tag für mich. Der Tag ist genauso beschissen wie alle anderen Tage in dem vergangenen Jahr. So lange ist es schon her, dass Charlie in unseren Ferien gestorben ist. So lange lebe ich nun ohne ihn auf dieser Welt.

Jeder Tag ohne ihn fühlt sich wie eine Qual an, so schrecklich leer. Ich erwache jeden Morgen und wünsche mir, dass das alles ein Traum gewesen ist. Ich hoffe jeden Schultag, dass Charlie in der letzten Sekunde doch noch ins Klassezimmer huscht, mich in den Arm nimmt und sagt, dass alles nur ein riesiges Missverständnis war und dass er doch noch lebt. Bei jedem Klingeln meines Handys sehne ich mich danach, dass die Nachricht von meinem besten Freund kommt.

Alles vergebens. Charlie ist tot und wird nicht wiederkommen. Obwohl ich das haargenau weiss, will ich es immer noch nicht ganz wahrhaben. Jede Nacht male ich mir aus, was gewesen wäre, wenn wir die eine oder andere Entscheidung in diesen Ferien anders getroffen hätten. Es hätte alles nicht so kommen müssen.

Im Nachhinein wäre ich nicht mehr in den Urlaub geflogen. Nicht nur weil Charlie sein Leben verloren hatte, sondern auch, weil wir nicht wir selbst waren. Wir waren in vielerlei Dingen zu selbstsicher gewesen, hatten uns mit den falschen Leuten abgegeben, haben nicht nachgedacht.

Aber dann hätte ich Larah nie kennengelernt.

Larah.

Im vierten Stock angekommen drücke ich meinen Daumen auf die Klingel mit dem Klingelschild «Psychologin Dr. med. Susanna Hofer». Ich höre wie ein Stuhl zurückgeschoben wird, gefolgt von dem Geräusch der Absätze auf dem Holzboden. Eine Frau Mitte Vierzig und mit einem rassigen Kurzhaarschnitt öffnet mir die Tür und streckt mir ihre Hand entgegen.

«Hallo Vincent», sagt sie. Sie trägt eine Brille, die an einer Kette befestigt um ihren Hals hängt, was meiner Meinung nach ziemlich scheusslich aussieht.

Mit einem knappen Nicken und einem schlaffen Händedruck grüsse ich zurück. Frau Hofer erzählt mir irgendwas über das Wetter, während ich meine Jacke aufhänge und auf dem schwarzen Sofa Platz nehme. Ich streiche mir die Schuhe von den Füssen und ziehe sie an mich. Frau Hofer setzt sich mir gegenüber.

Der Raum ist klein, gefüllt mit dem Sofa, einem Sessel, einem Schreibtisch und einem grossen Aktenschrank. Durch das geöffnete Fenster hört man den Verkehrslärm der Hauptstrasse. Kalte Luft umgibt mich und ich friere.

"Wenn dir kalt ist, brauchst du das nur zu sagen, dann schliesse ich das Fenster." Als hätte sie meine Gedanken gelesen. "Passt schon", lüge ich.

Meine Akte liegt bereits auf dem Tisch. Frau Hofer schlägt eine neue Seite in ihrem Notizbuch auf. "Jetzt haben wir uns zwei Wochen nicht mehr gesehen. Hat sich in deinem Alltag irgendetwas verändert?"

"Charlies Geburtstag", antworte ich, "Es wäre sein Zwanzigster gewesen."

"Was hast du an diesem Tag gemacht?" Schmerzerfüllt denke ich an den Tag zurück. "Nichts. Ich bin nicht zur Schule gegangen. Habe den ganzen Tag im Bett verbracht und in die Luft gestarrt." Das war nicht gelogen. Ich stand nur einmal auf, um auf Klo zu gehen, das war's dann aber auch schon.

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