In Erinnerungen schwelgen

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Am nächsten Morgen wachte ich auf, als mir die Sonne ins Gesicht schien. Ich öffnete die Augen und streckte mich. Der Wecker auf meinem Nachttisch zeigte halb elf an. Es blieb also noch genug Zeit, um in Ruhe aufzustehen, mich für den Tag fertig zu machen und meine Sachen zu packen, bevor ich mich um zwei ein letztes Mal mit Nico und seinen Finalisten in der Hotellobby treffen würde, um mich zu verabschieden. Jonas schlief noch tief und fest neben mir, die eine Hand unter dem Kissen, die andere auf meinem Bauch. Seine schulterlangen blonden Haare fielen ihm ins Gesicht und ich strich sie vorsichtig zur Seite. Ich hörte ihn einmal laut einatmen, dann öffnete er die Augen und murmelte: „Morgen, Jen." „Hey", sagte ich leise, „ich wollte dich nicht wecken, sorry." „Alles gut." Er drehte sich auf den Rücken und streckte sich, während ich aufstand. „Hey, nicht weglaufen. Wir haben doch noch ewig lange Zeit", meinte er gähnend. „Bin gleich wieder da." Ich verschwand schnell ins Badezimmer und als ich wieder das eigentliche Hotelzimmer betrat, lehnte ich mich mit verschränkten Armen an die Wand und beobachtete meinen Freund, der gerade etwas auf seinem Handy tippte. „Du siehst entspannt aus", meinte ich. Er ließ das Handy sinken und sah mich an. „Es gibt ja auch keinen Grund, unentspannt zu sein. Die Show ist vorbei, es stehen keine Proben mehr an und ich bin heute Morgen ganz entspannt und ohne nervigen Wecker neben meiner wunderschönen Freundin wach geworden. Ist also alles perfekt." Ich lachte und sah an mir herunter. In seinem für mich viel zu großem T-Shirt sah ich ganz gewiss alles andere als super attraktiv aus. Ich schlüpfte wieder zu ihm unter die Decke und sah ihn an. „Aber ein bisschen traurig ist es schon, dass die Show vorbei ist, oder?" Er nickte. „Klar. Das war mit Abstand die coolste Zeit, die man haben konnte. Ich denke, ohne The Voice wäre 2020 ganz schön öde geworden." Ich nickte. „Das stimmt. Hier hat man total vergessen, dass wir uns in einer globalen Pandemie befinden." Ich dachte an die Erlebnisse der letzten Monate und musste plötzlich kichern. „Am besten war Nicos Gesicht, als ihr ihm das Video von ,Safe' gezeigt habt. Ich hab den noch nie so sprachlos gesehen", meinte ich. „Und die After-Show-Party danach war auch echt witzig. Auch wenn ich nicht mehr so sonderlich viel davon weiß." Jonas verdrehte die Augen und sagte: „Da hast du dir aber auch total die Kante gegeben. Max im Übrigen auch." Ich runzelte die Stirn. „Woher weißt du das?" Er lachte. „Ich hab Nico geholfen, euch ins Bett zu verfrachten, meine Liebe. Ihr wart ja beide nicht mehr in der Lage, alleine zu laufen." Ich merkte, wie ich rot anlief. „Oh je, wie peinlich." Er zuckte mit den Schultern. „War eigentlich ganz witzig. Max hat mir die ganze Zeit erzählt, wie toll du bist und dass man total merken würde, wie sehr ich in dich verschossen wäre. Hab ihn dann mal gefragt, ob er auch was von dir will." Ich hob die Augenbrauen. „Wollte er nicht und will er auch immer noch nicht", fuhr Jonas fort, „aber in dem Moment war das für mich ein riesiges Thema." Er legte einen Arm um mich und zog mich an sich. „Ich dachte, an dem Abend wäre ich dir total egal gewesen", murmelte ich. Er lächelte mich an und flüsterte: „Du warst mir nie egal. Ich war auch nie wirklich sauer auf dich, sondern nur verwirrt und verletzt. Deshalb bin ich auch irgendwann einfach gegangen. Ich konnte nicht zusehen, wie du ganz normal gefeiert hast, als wäre nichts." Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Schließlich meinte ich jedoch: „Für mich war der Abend auch alles andere als perfekt. Nico und ich haben uns noch ziemlich gestritten." Jonas riss überrascht die Augenbrauen. „Das hat er gar nicht erzählt. Worum ging es?" Ich seufzte. „Ach, weißt du, ich bin zwar Nicos beste Freundin, aber dennoch sind wir nicht immer einer Meinung. Ich denke, du kannst dir vorstellen, dass ich nicht begeistert von seiner Entscheidung war, Max keinen Hot Seat zu geben. Ich fand ihn besser als Nico Traut und wenn ich ganz ehrlich bin, auch besser als euch. Max hätte mindestens im Halbfinale stehen müssen, denn er ist einfach ein unfassbar guter Sänger. Aber Nico wollte unbedingt Nico Traut im Finale haben, weshalb er die Tatsache, dass Max unfassbar gut war, ignoriert hat. Ich persönlich habe Nico Traut nie im Finale gesehen. Er ist ein guter Sänger, aber mir hat immer irgendwas bei seinen Performances gefehlt." Ich erwiderte den sprachlosen Blick meines Freundes. Ich stand zu meiner Meinung, wusste aber auch, dass die Geschmäcker halt verschieden waren. „Wie, glaubst du, wäre es gelaufen, wenn statt Nico Max ins Halbfinale eingezogen wäre?" Ich dachte nach. „Für mich ist das zwar nicht mehr von Bedeutung, aber okay. Ich denke, wenn Max ins Halbfinale gezogen wäre, wäre die Woche vor dem Halbfinale noch witziger gewesen, als sie jetzt schon war. Aber ich denke auch, dass Max ins Finale eingezogen wäre. Dann gäbe es jetzt den Song ‚Treat you right' nicht, denn zu Max passt das Lied nicht", vermute ich. „Und was wäre aus uns geworden?", fragte mein Freund zögernd. Ich lachte und legte meine Hand auf seine Wange. Während ich mit dem Daumen über seinen Wangenknochen strich, meinte ich: „Das kommt drauf an, was du in diesem Moment gewollt hättest, Johnny. Für mich war es klar, dass ich dir nach der Entscheidung unbedingt sagen musste, was ich für dich empfinde. Die Wochen vorher waren anstrengend gewesen und ich hatte dich mehr als nur ein kleines Bisschen vermisst. Nach dem Publikumsentscheid war ich nicht mehr an den Vertrag gebunden und konnte endlich meine Gefühle für dich offen legen. Es tut mir immer noch so leid, dass ich dich so lange habe warten lassen." Er lächelte mich an. „Natürlich hätte ich doch auch dann noch gewollt. Blöde Frage." Er stützte den Kopf auf seine Hand und meinte dann: „Weil ich dich liebe, Prinzessin." Mein Herz fing in meiner Brust wie wild an zu hüpfen. Nicht nur, dass er mir das erste Mal wirklich gesagt hatte, dass er mich liebte. Nein, er hatte mir auch gleich noch einen Kosenamen verpasst. Er beugte sich zu mir runter und küsste mich vorsichtig auf den Mund. „Ich liebe dich auch", murmelte ich in den Kuss hinein. Ich schloss die Augen und ließ mich wieder in den Kuss fallen, bis mein Wecker auf einmal anfing, herumzulärmen. „Ich habe eine tiefe Abneigung gegen das Ding", sagte Jonas und sah den Wecker strafend an. Ich lachte und schaltete ihn aus. „Komm, wir müssen jetzt echt hoch, sonst schaffen wir es nicht um zwei fertig zu sein." Ich schälte mich aus seiner Umarmung und stand auf, um wieder ins Bad zu verschwinden. Als ich eine halbe Stunde später geduscht und gestylt das Zimmer wieder betrat, hatte er schon alle seine Sachen, die hier noch lagen, zusammen gepackt und saß jetzt mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck in dem blauen Sessel. „Was ist los?", fragte ich ihn, während auch ich meine Sachen zusammen suchte und in meinen großen Koffer tat. „Ach, weißt du, irgendwer prasseln jetzt gerade die ganzen Erlebnisse auf mich ein." Ich sah ihn mitfühlend an und richtete mich auf. „Zu viel?", fragte ich leise. „Ein wenig", erwiderte er. Ich winkte ihn zu mir und nahm ihn tröstend in den Arm. Bis jetzt war er die ganze Zeit so unter Strom gewesen, dass er gar keine Zeit hatte, alles zu verarbeiten. Er vergrub sein Gesicht in meiner Halsbeuge und drückte mich fester an sich. „Es kommt mir alles gerade so surreal vor. Als ob das Alles, was in den letzten Wochen passiert ist, nur ein Traum war", hörte ich. „War es aber nicht", erwiderte ich, „sonst wäre ich ja nicht hier, oder?" Er hob den Kopf und sah mich an. „Stimmt." Ich lächelte ihn warm an und löste mich von ihm. „Danke", sagte er leise. „Keine Ursache." Ich wandte mich wieder meinen Klamotten im Schrank zu, während er sich auf das Bett setzte und nach seiner Gitarre griff, die er gestern Abend noch aus dem Studio mitgenommen hatte. Er fing an, darauf herum zu klimpern und fragte plötzlich: „Sag mal, stimmt es eigentlich, dass du einen Zweitnamen hast?" Ich hob den Kopf und runzelte die Stirn. „Wie kommst du denn jetzt darauf?" „Keine Ahnung. Es schoss mir eben durch den Kopf. Ich glaube, Nico hat das mal erwähnt." Ich bekam so langsam das Gefühl, dass Nico ganz schön viel von mir erzählte. „Ja, ich habe einen Zweitnamen. Mein vollständiger Name ist Jenny Noémi Richter", verkündigte ich. „Noémi? Klingt irgendwie französisch", meinte er und ich lachte. „Vielleicht hätte Nico dir auch sagen sollen, dass ich zur Hälfte Französin bin." Mein Freund riss überrascht die Augen auf. „Echt jetzt?" „Ja. Meine Mutter ist in Nizza geboren und aufgewachsen. Sie hat meinen Vater dort auch kennen gelernt, als er dort Urlaub gemacht hat. Später ist sie dann zu ihm nach Limburg gezogen, wo ich dann zwei Jahre später geboren wurde. Ich bin zweisprachig aufgewachsen und habe in meiner Kindheit viele Sommer bei meiner Oma auf ihrem Reiterhof in der Nähe von Nizza verbracht", erklärte ich ihm in schnellem Französisch. Ich sah ihm an, dass er nicht alles verstanden hatte. „Alter, du sprichst fließend Französisch?", entfuhr es ihm. Ich zuckte nur lächelnd mit den Schultern und klappte meinen Koffer zu. „So, was meinst du, willst du vielleicht auch mal in dein eigenes Zimmer zurückkehren und deine Sachen packen?" „Hast du es eilig, mich loszuwerden?", fragte er mit schief gelegtem Kopf. Er packte die Gitarre weg, zog seine Schuhe an und kam dann zu mir. „Wir sehen uns später unten." Ich nickte und gab ihm einen Kuss, bevor er mit der Gitarre in der Hand mein Zimmer ein letztes Mal verließ. Ich schloss die Tür hinter ihm und sammelte meine restlichen Sachen zusammen. Eine halbe Stunde später stand ich mit gepackten Taschen in der Tür und schaute fast ein bisschen wehmütig in mein Hotelzimmer. Die The Voice-Reise war jetzt offiziell vorbei, was mich schon ein bisschen traurig machte. Ich zog die Tür ein letztes Mal hinter mir zu und fing, während ich über den Flur lief, an zu lächeln, als ich an die Dinge dachte, die jetzt bald folgen würden.

Don't leave me, Johnny || Maël und Jonas FFUnde poveștirile trăiesc. Descoperă acum