Die Schulter zum Ausweinen

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In zwei Tagen würden die Sing Offs im Team Nico aufgenommen werden und ich kam kaum noch hinterher mit meiner Arbeit. Mit meinem Tablet und einem ganzen Haufen Songtexte bewaffnet, rannte ich fast über einen der vielen Flure im The Voice-Studio. Mein Handy klingelte und ich nahm über den Knopf im Ohr ab. „Jen, wo bist du denn?" „Ich suche Max, aber irgendwie ist er nicht aufzufinden. Ich suche ihn schon eine halbe Stunde lang und an sein Handy geht er auch nicht." „Hast du mal nach ihm gefragt?" „Natürlich, ich bin ja nicht von gestern", meinte ich und verdrehte die Augen, „ich melde mich wieder bei dir, wenn ich ihn gefunden habe. Sag mal, musst du nicht gleich bei einem Interview sein?" „Oh Mist, da war ja was. Danke für's Erinnern. Bis nachher", verabschiedete sich Nico und ich legte auf. Ich bog um die nächste Ecke und prompt rasselte in jemanden rein. „Oh shit. Sorry", entschuldigte ich mich und fing an, die vielen Zettel, die aus der dicken Mappe gefallen waren, wieder aufzusammeln. „Ach das macht doch nichts." Ich hob den Kopf und sah, dass der junge Mann sich neben mich hockte und mir beim Aufsammeln half. Dann reichte er mir die Hand, um mir auf die Beine zu helfen. Ich war geschmeichelt von der Geste. „Vielen Dank." „Kein Problem. Bist du neu hier? Ich hab dich hier noch nie gesehen", fragte er und lächelte dabei. Er hatte schwarze Haare, braune Augen und einen leicht gebräunten Teint. Ich kannte ihn schon vom Sehen her, hatte aber noch nicht mit ihm gesprochen. „Nein, ich arbeite für Nico. Ich bin seine Assistentin", antwortete ich und streckte ihm die Faust entgegen. „Handschlag macht man ja neuerdings nicht mehr. Ich bin Jenny." Er gab mir den Fist Bump. „Tosari aus dem Team Mark, aber die meisten nennen mich nur Tosi. Freut mich sehr, dass ich dir auch mal begegne. Ich hab schon eine ganze Menge von dir gehört." Ich legte den Kopf schief. „Wirklich?" „Ja, weißt du, ich habe außerhalb der Show ein bisschen was mit Sion und Max zu tun. Und die haben mir schon mehrfach erzählt, was für ein toller Mensch du bist." Ich wurde rot. „Ich wusste nicht, dass ich so ein Gesprächsthema bin." Ich runzelte die Stirn. „Sag mal, hast du zufällig in der letzten halben Stunde Max irgendwo gesehen?" Tosi nickte. „Ja, er ist gerade auf die Dachterrasse im vierten Stock gegangen. Er sagte irgendwas von ‚Er wolle alleine sein.'. Aber irgendwie war er heute den ganzen Tag schon so komisch drauf", meinte er nachdenklich. „Danke, ich sehe mal nach ihm. Ich wünsche dir viel Erfolg bei deinen Proben. Wir sehen uns." Ich verabschiedete mich und lief die Treppen hoch in den vierten Stock. Die Dachterrasse lag am Ende des langen Ganges und ich konnte durch die Glastür tatsächlich jemanden sehen. Ich drückte die Tür auf und ging auf Max zu, der mit dem Rücken zu mir am Geländer lehnte und auf die nächtliche Berliner Skyline sah. Es war sehr schön hier oben. Ein schwarzer Flügel stand unter dem Vordach, Fackeln brannten überall und tauchten die ganze Terrasse in warmes Licht. Obwohl es schon kurz nach sieben Uhr war, war es noch verhältnismäßig warm, vorausgesetzt man trug einen Pulli oder eine dünne Jacke. „Hey", sagte ich und stellte mich neben Max. Er drehte seinen Kopf zu mir und lächelte mich an. „Na? Wer hat mich verraten?" „Tosi. Ich habe dich schon eine ganze Weile gesucht. Warum gehst du nicht an dein Handy?", fragte ich. „Oh, du hast mich angerufen? Entschuldige, ich habe das gar nicht mitbekommen", sagte er mit großen Augen und zog sein Handy aus der Hosentasche. Er sah traurig aus. „Ist irgendwas passiert?", fragte ich vorsichtig nach. Er zuckte mit den Schultern. „Ich musste nur mal alleine sein." Max war niemand, der viel redete. Umso mehr überraschte es mich, dass er nach einer kurzen Pause weitersprach: „Es ist so absurd. Ich habe hier gerade so eine geile Zeit mit den ganzen Leuten hier, die genauso ticken wie ich. Ich darf den ganzen Tag Musik machen und werde dabei von einem der Topsänger Deutschlands gecoacht. Und das alles in Berlin, meiner absoluten Lieblingsstadt. Und trotzdem wünsche ich mir doch irgendwie, ich könnte zu Hause sein." Er sah mich an. „Warst du schon mal richtig unglücklich verknallt?", fragte er mich. Aha, daher wehte also der Wind. Ich nickte und er sah wieder auf die Skyline. „Ihr Name ist Jana. Ich kenne sie schon seit der Grundschule und irgendwie fand ich sie schon immer toll." Er zögerte. „Ich habe ihr das vor meiner Abreise endlich gesagt und naja, sie empfindet halt nicht so wie ich. Seit drei Tagen ist absolute Funkstille zwischen uns." Er schluckte schwer. „Och, Max, das tut mir so leid für dich", sagte ich leise zu ihm. „Ich will sie einfach als meine Freundin nicht verlieren. Ich hab Angst, dass ich jetzt alles kaputt gemacht habe, nur weil ich zu viel wollte", gestand er mir. Ich wusste nicht, was ich zu ihm sagen sollte. „Das hast du bestimmt nicht", versuchte ich ihn aufzumuntern. Er stand da wie ein Tröpfchen Elend und umarmte ich ihn nach kurzem Überlegen trotz Corona. Pandemie hin oder her, manchmal brauchte der Mensch einfach seelischen Beistand und Zueignung. Er war zuerst überrascht, legte dann jedoch auch seine Arme um mich. Ich wiegte ihn leicht hin und her und strich mit der Hand tröstend über seinen oberen Rücken. Irgendwann löste er sich von mir und wischte schnell mit der Hand über seine Augen. „Danke", murmelte er. Ich lächelte ihn mitfühlend an. Dann kam mir eine Idee. „Komm mal mit", sagte ich und er folgte mir ans Klavier. Ich setzte mich und legte die Finger auf die Tasten. „Was hast du vor?", fragte er verwundert. „Du bist Musiker, Max, und ich glaube, jetzt gerade würde es dir am meisten helfen, wenn du deinen Kummer einfach raussingst", erklärte ich. „Ist das dein Ernst?" Ich nickte und fing an, das Intro von „Falling", dem Lied, das er in den Blinds gesungen hatte, zu spielen. Ich lächelte ihm aufmunternd zu und er fing tatsächlich an zu singen. Es war noch emotionaler als beim ersten Mal und ich war wieder komplett hin und weg von seiner Stimme. Im zweiten Refrain stieg ich leise mit ein und sang die Harmonie. Er sah mich überrascht an und lächelte. Ich sah auf die Tasten, als ich den letzten Akkord spielte und als ich wieder zu dem Sänger sah, lächelte er mich ehrlich an. „Du kannst ja total gut singen. Danke, Jen. Darf ich dich so nennen?" Ich nickte und er meinte: „Es hat wirklich geholfen. Aber du scheinst auch etwas auf dem Herzen zu haben, oder?" Ich seufzte. „Irgendwie schon, aber momentan habe ich noch keine Ahnung, in welche Richtung sich das Problem entwickeln wird", gab ich zu. „Wenn du jemanden brauchst, mit dem du den Kummer raussingen kannst, sag Bescheid." Ich lachte und antwortete: „Das mache ich dann. Versprochen." Ich stand auf, als er plötzlich fragte: „Kann ich dich noch einmal in den Arm nehmen?" Ich fragte nicht, warum, sondern nickte nur lächelnd. „Tu du mir bitte einen Gefallen und komm zu mir, wenn du jemanden zum Reden brauchst. Du musst das nicht in dich reinfressen, okay?" Er nickte. „Gut, und jetzt gehen wir wieder an die Arbeit."

Don't leave me, Johnny || Maël und Jonas FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt