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'Jeder Mensch wird in seinem Leben irgendwann mal an einen Punkt gelangen, an dem sein bisheriges Ziel ihm plötzlich sinnlos und unmöglich erscheint. Er wird seine Motivation, Freude und sein Lächeln verlieren. Aufgeben und alles liegen lassen, wird ihm in diesem Moment viel passender vorkommen. Doch genau dann taucht dieser eine Mensch auf, der alleine mit seiner Existenz schon alles verändern wird. Mit einem mal sieht man alles anders, so als ob man in einen anderen Körper eintaucht und sich von außen beobachten könnte. Man sieht seine bisherigen Fehler, seine Stärken und sein Verhalten mit einem ganz anderen Auge. Und plötzlich wird einem klar, wer man wirklich ist und was man wirklich will. Die Person hinter diesem Gesicht und ihre Gefühle offenbaren sich einem, wie ein offenes Buch. Das Leben beginnt ab dem Moment, an dem man diese verriegelte Wahrheit wahrnimmt.'

Seufzend schlage ich das Buch zu und lehne mich nach hinten. Die Zeilen sind eine reine Zeitverschwendung in meinen Augen. Ein Mensch kann auch ganz alleine sein Ziel erreichen und sich immer wieder aufbauen. In meinen Augen wird eine zweite Person dafür nicht benötigt. Solche Texte gaukeln einem immer eine perfekte, rosarote Welt vor, obwohl es in Wahrheit ganz anders aussieht. Kein einziges Wort in diesem Buch entspricht der grausamen und kalten Realität unserer Welt. Zumindest nicht meiner Welt, die von Enttäuschungen und Unwahrheiten geprägt ist. Eine Welt, aus der ich niemals entkommen kann. Es ist meine Pflicht, der ich nun mal unfreiwillig folgen muss.
"Grace?", höre ich plötzlich eine Stimme neben mir sagen. Ich hebe meinen Blick und sehe niemand anderen als Sara vor mir stehen.
"Sara? Was machst du denn im Bus? Hast du nicht ein Auto?", frage ich sie verwirrt und rutsche dabei auf die Fensterseite, um ihr Platz zu machen.
"Doch, aber kein Geld mehr, um zu tanken..", erklärt sie mir lachend, während sie sich auf den Sitz fallen lässt.
"..Was liest du denn da?", fragt sie mich schließlich voller Neugier und richtet ihre Blicke auf das Buch in meiner Hand.
"Ein altes Buch. Habe ich heute beim Aufräumen wieder gefunden."
"Zeig mal her", sagt sie neugierig und reißt mir das Buch aus der Hand. Ihre Neugier wird sie irgendwann noch in große Gefahr bringen. Das sage ich ihr immer wieder, doch Sara ist nun mal Sara. Ich kenne sie schon sehr lange und unsere Freundschaft ist mir so wichtig, auch wenn ich mich manchmal frage, wie sie überhaupt so lange anhalten konnte, da Sara und ich nicht unterschiedlicher hätten sein können. Während Sara mit ihrer aufgeweckten, lauten und lebensfrohen Art strahlt, bin ich eher ernst und zurückgezogen gegenüber fremden Leuten. Ich schenke nicht jeder Person direkt mein Vertrauen und das wiederum schreckt die meisten doch ziemlich ab, was für mich jedoch in Ordnung ist. Solange die Leute, die ich wirklich liebe, bei mir sind, kann ich auf alles andere verzichten. Vor allem in letzter Zeit habe ich so viel um die Ohren, da bin ich doch lieber alleine. Für viele wirke ich wahrscheinlich sehr langweilig und demnach lassen sie mich in Ruhe. Andere wiederum nehmen meine ruhige Persönlichkeit als Arroganz auf. Man kann es einfach nicht allen Recht machen. Das habe ich in den letzten Jahren gelernt.

"Warum besitzt du überhaupt so ein Buch, Grace? 'Leben oder richtig leben'? Das hört sich ja total öde an", gibt sie gelangweilt von sich und richtet dabei ihre blauen Augen auf mich.
Warum ich so ein Buch überhaupt besitze? Die Frage habe ich jetzt wirklich nicht erwartet. Zudem öffnet sie mit einem mal die Tür zu den alten Erinnerungen, die sich direkt wieder vor meinen Augen abspielen.
"Was ist das? Warum liest du denn sowas?", frage ich ihn neugierig und schaue mir das Buch in meinen Händen genauer an.
"Das Buch ist wirklich interessant. Es zeigt dir mehr über das Leben, als du es mit eigenen Augen jemals erleben und sehen kannst. Wenn du willst, kannst du es ruhig haben. Ich habe es schon mehrmals gelesen", erklärt er mir und richtet dann seine rehbraunen Augen vom Buch auf mich.
"Ist das wirklich in Ordnung? Ich will dir nicht dein Lieblingsbuch einfach so..-"
"Ja, es ist in Ordnung. Sieh es als kleines Geschenk von mir. So kannst du dich bei jedem Lesen an mich erinnern, oder?"
"Grace? Alles okay?", fragt mich plötzlich Sara besorgt und reißt mich somit aus meinen Gedanken.
"Ja, alles super. Ich muss dann mal aussteigen. Bis morgen", und mit den Worten stehe ich auf und steige aus dem mittlerweile vollen Bus aus. Ein kalter Wind begrüßt mich draußen und weht mir durch die Haare, während ich versuche mich auf andere Gedanken zu bringen. An ihn zu denken, ist das Allerletzte, was ich gerade will. Doch Erfolg habe ich dabei leider nicht. All die Erinnerungen überrollen mich immer weiter. Seine Augen, sein Lächeln und seine Stimme.. Mit einem mal ist alles wieder vor mir.

StrangerWhere stories live. Discover now