6. Dezember

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Heute hatte ich mir etwas vorgenommen. Ich wollte zur Uni gehen, ohne von dem Typen bemerkt zu werden. Nur musste ich dafür irgendwie an ihm vorbeikommen. Wie gesagt, Umweg viel raus. Also war mein Plan einfach auf der anderen Straßenseite langzugehen. Wenn ich Glück habe, ist die Straße breit genug, sodass er mich auf der anderen Seite gar nicht entdeckt, weil zu viele Autos zwischen uns sind. Um mich extra zu schützen, wickelte ich mir meinen Schal möglichst hoch und zog meine Mütze tief uns Gesicht. Ich hoffte, dass er mich so nicht sofort erkennen würde und mich einfach übersieht.

Das einzige wirklich auffallende an mir waren die Krücken. Und leider war es mir so auch nicht wirklich möglich schnell zuflüchten. Trotzdem hatte ich Hoffnung, dass mein Plan klappt, wenn ich das richtige Quäntchen Glück habe.

Ich schickte im Stillen ein Schoßgebet gen Himmel, als ich schon 100 Meter vor der Straßenecke, an der er immer stand, die Straße wechselte. Der morgendliche Verkehr war unterwegs, was gut für mich war, denn die Autos versperrten teils die Sicht auf die andere Straßenseite. Ich sah mich um, als ich versuchte zügig an der gegenüberliegenden Straßenecke vorbeizulaufen und sah, dass er tatsächlich da war. Zum Glück war er aber gerade abgelenkt, da er gerade im Gespräch mit einer jungen Frau war. Als ich genauer hinsah, sahen die beiden vertrauter aus, als es auf dem ersten Blick schien. Und ich merkte, wie sich ein winziges kleines unwohles Gefühl in mir breit machte. Jetzt war mein Körper völlig verwirrt. Waren wahrscheinlich nur die Schmerztabletten, die höchstwahrscheinlich als Nebenwirkungen zu plötzlichen Stimmungsschwankungen und Unwohl-sein führen.

Schnell ging ich weiter und drehte mich wieder weg, damit er mich nicht doch noch entdeckte, wie ich ihn beobachtete.

Insgeheim freute ich mich sehr, dass ich so gut an ihm vorbeikam und lobte mich selbst für den guten Plan. Jetzt wusste ich wenigstens, wie ich ihm aus dem Weg gehen konnte, ohne jeden Morgen einen 20-minütigen Umweg machen zu müssen.

„Leonie". Ich verzog das Gesicht beim Klang meines Namens und zuckte zusammen. Oh nein. Verdammt! Wie konnte das denn jetzt passieren? Ich wusste genau, wessen Stimme das war. Anscheinend hatte ich mich doch zu früh gefreut.

„Hey, jetzt warte doch mal!", hörte ich ihn hinter mir rufen. Einfach weitergehen. Nicht umdrehen. Tu so, als hättest du ihn nicht gehört.

„Hey! Ich spreche mit dir!" Arggh, warum hasste mich die Weihnachtszeit so und tat mir so etwas an? 

Auf einmal flog etwas gegen mich. Hatte er mich gerade wirklich mit einem Schneeball beworfen? Geschockt drehte ich mich um. Er holte gerade die letzten Meter zu mir auf und seine Wangen waren leicht rot von dem kurzen Lauf. Wie ist der überhaupt so schnell über die befahrende Straße gekommen?

„Hast du mich gerade ernsthaft mit einem Schneeball beworfen? Mich, eine Verletzte auf Krücken?" Ich sah ihn entrüstet an.

„Ich hatte ja keine andere Wahl. Ich wusste ja nicht, dass du zu den Schwerhörigen gehörst. Und wer nicht hören kann, der muss halt fühlen." Er zuckte mit den Schultern, so als wäre ihm das völlig gleichgültig, ob ich jetzt auf Krücken laufe oder nicht.

„Aber... aber ich bin wehrlos! Das ist gemein!" Ich deutete mit meinem Kopf auf die Krücken.

Sein Gesichtsausdruck blieb unbeeindruckt. „Natürliche Selektion. Die Stärksten überleben."

Ich schüttelte verärgert den Kopf. Ich glaub's nicht, dass er jetzt damit ankommt.

„Haha, wie witzig." Ich verdrehte genervt die Augen. „Willst du jetzt noch irgendwas oder kannst du mich jetzt endlich in Ruhe lassen?"

Er zog die Augenbrauen hoch. „Ich bin überrascht, dass du die Frage selbst noch nicht kennst."

Immer noch planlos sah ich ihn fragend an. Er holte seine Spendendose aus seiner Tasche. Spätestens da leuchtete es mir ein. „Vergiss es." 

„Aber es ist doch für einen guten Zweck!" Er versuchte einen Hundeblick aufzusetzen und zog die Unterlippe vor.

„Das klappt bei mir nicht. Versuch deine Masche bei jemandem anderen." Ich wollte mich gerade wieder umdrehen und weitergehen.

„Okay, okay, ist ja gut, ich mache dir ein Angebot."

Ich drehte mich wieder halb zu ihm um, gespannt, was jetzt kommt und sah ihn skeptisch an.

„Wenn du 'nen Schein spendest..." fing er an und machte eine kurze Pause, in der er mich direkt ansah und ich fühlte mich etwas unwohl seinen direkten Blick auf mir zu spüren.

„Dann...?", fragte ich, als er nicht fortfuhr.

„Dann kriegst du ein Date mit mir!" Genervt stöhnte ich auf. Ich glaub's ja nicht. Ich drehte mich einfach wieder um und lief weiter. Das kann der doch nicht ernst meinen.

„Leonie, wir wissen doch beide, dass du mich willst! Auch wenn es nur für Geld ist!" Ich konnte förmlich hören, wie breit er gerade grinste.

Ohne mich umzudrehen streckte ich ihm den Mittelfinger entgegen und lief einfach weiter.

So ein Arschloch.

Bevor ich in meine Vorlesung ging, schrieb ich Betty noch schnell eine Nachricht: 

Der Typ ist ein Idiot!!

Ich steckte mein Handy wieder weg und betrat den Raum, während ich mich auf einen langen Uni-Tag vorbereitete. Doch irgendwie gelang es mir heute Morgen nicht mich richtig zu konzentrieren. 




Der Winter In DirWhere stories live. Discover now