5. Dezember

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Am Dienstag hatte ich zum Glück erst später Uni und somit genügend Zeit den Bus zum Campus zu nehmen, der mir früh morgens nie mit dem Fahrplan passte. Jetzt, außerhalb der Stoßzeiten, ist er zum Glück auch nicht so überfüllt, sodass man nicht hin und her gedrängelt wird und mehr Schläge in die Fresse bekommt, als bei einem Boxkampf. Heute schien sogar ein guter Tag zu sein, denn ich hatte sogar mal das seltene Glück einen Sitzplatz zubekommen, was mit Krücken sehr angenehm war. Und vor der Vorlesung hatte ich noch genügend Zeit mir was beim Bäcker zu holen und ein spätes Frühstück zu essen. Rundherum schien der Tag für einen Wintertag ganz akzeptabel zu starten. Ganz kurz ist mir sogar fast schon ein winziges Lächeln entgleitet, als ich abwesend war, aber ich hatte mich schnell wieder in der Fassung. So gut war der Tag dann auch wieder nicht, schließlich war es immer noch Weihnachtszeit. Und Weihnachtszeit ist Hasszeit. Da steigt meine Laune nicht über den Gefrierpunkt an.

Jedoch gab es noch einen Grund, warum meine Stimmung heute besser war, als in den letzten Tagen. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass ich heute nicht diesem Typen mit dem hässlichen Weihnachtspulli und der Spendendose begegnen musste. Seine große Klappe sorgte bei mir nämlich nicht gerade für Bombenstimmung. Heute konnte ich einfach mal ungestört Bus fahren und musste nicht an ihm vorbeilaufen, was eine sehr willkommene Abwechslung war. 

Eigentlich war ja mein Plan gewesen das nächste Mal einfach einen großen Umweg zu machen, jedoch schien dieser Plan nicht aufzugehen. Es stellte sich nämlich heraus, dass es fast unmöglich war die Straßenecke, an der er immer stand, zu vermeiden, da sie an einer der Hauptverkehrspunkte lag und dazu noch mitten inder Stadt. Würde ich einen Bogen um diese Straße machen wollen, müsste ich mindestens 20 Minuten mehr Fußweg einplanen und ich war nicht bereit dieses Opfer auf mich zu nehmen und jeden Morgen 20 Minuten früher aufzustehen, um mit Krücken einen noch längeren Weg zur Uni zu laufen und das ganze nur wegen eines Typen! Der kann mich mal, der soll sich nicht einbilden, dass ich wegen ihm so ein großes Opfer erbringe. So wichtig war er mir dann auch wieder nicht.

Ich war gerade auf dem Rückweg von der Uni, die heute zum Glück relativ entspannt verlief und hörte Musik, während ich im Bus saß. Ich hatte heute tatsächlich zweimal Glück und habe auf dem Rückweg gleich noch einen Sitzplatz bekommen. Ich weiß, ich kann mein Glück selbst kaum glauben. Ich schaute aus dem Fenster und beobachtete, wie wir langsam durch die Straßen fuhren, als der Bus an einer Ampel anhielt und ich weiter nach draußen schaute. Aufeinmal bemerkte ich, dass mir die Straßenecke bekannt vorkam. An der Ecke musste ich jeden Morgen vorbeigehen und dort wartete neuerdings immer eine unerwünschte Überraschung auf mich, a.k.a. nervige Typ mit der der Spendendose. Ich konnte mich nicht davon abhalten und meine Augen suchten fast automatisch die Straße ab, als ich ihn etwa 20 Meter entfernt entdeckte, wie er gerade mit einem älteren Mann redete. Insgeheim freute ich mich, dass ich ihm heute so schön entgehen konnte, ohne dass er mich mit irgendwelchen dummen Sprüchen nerven konnte.

Der Bus fuhr gerade wieder an und an ihm vorbei, da drehte er den Kopf in meine Richtung. Schnell drehte ich mich um, damit er mich nicht sehen konnte und hoffte, dass dies noch nicht geschehen ist. Sonst wäre es wirklich peinlich gewesen.

Als ich meine Tür zur Wohnung aufschloss, checkte ich mein Handy und sah, dass ich einen verpassten Anruf von meinem Vater hatte. Schade, dachte ich, der Tag hätte fast noch gut werden können. Da ich wusste, wie sehr er es hasste, wenn ich nicht zurückrief und ihn ignorierte, zog ich schnell meine Schuhe und meine Jacke aus, setzte mir einen Tee auf, bevor ich es mir auf dem Sofa gemütlich machte und ihn dann zurückrief.

„Leonie, schön, dass du dich zurückmeldest!", hörte ich die Stimme meines Vaters am anderen Ende der Leitung.

„Sorry Dad, war noch in der Uni."

„Kein Problem. Das dachte ich mir schon fast. Ich wollte dich auch gar nicht lange stören."

„Was gibt's?", fragte ich nach.

Ich hörte, wie er einatmete. „Ich wollte dich eigentlich nur zu Weihnachten zu uns einladen. Regina und die Kinder würde sich freuen."

Ich verzog das Gesicht. „Das ist nett von euch..., aber ich denke ich verzichte."

Ich hörte am anderen Ende der Leitung ein Seufzen. „Leonie", fing mein Vater an und ich wusste, was jetzt kommen würde. Das, was mir schon seit Monaten jeder aus meinem Umfeld vorwarf.

„Du kannst nicht ewig so weiter leben. Ich weiß, dass dich der Tod deiner Mutter immer noch mitnimmt, aber du kannst dich doch nicht deswegen von jedem verschließen und dich vollkommen abschotten."

„Natürlich kann ich das, siehst du doch!", rief ich genervt zurück. „Ich brauche niemanden, okay? Ich komme auch gut alleine klar! Und ich habe es satt, dass mir das immer jeder vorwirft, von wegen das wäre nicht gesund und so bin ich doch nicht glücklich! Ich weiß schon was am besten für mich ist!" Wie oft hatten wir diese Diskussion jetzt schon.

Auch mein Dad merkte wohl, dass wir uns wieder einmal im Kreis drehten und es auf das selbe hinauslaufen wird, wie sonst.

„Gib ihnen wenigstens eine Chance, okay?" Und ich wusste, dass wir nun von seiner neuen Frau und ihren Kindern sprachen. „Sie würden dich so gerne Mal kennenlernen. Die beiden Kleinen fragen mich schon immer, wann sie dich mal treffen dürfen und du würdest ihnen wirklich eine große Freude machen, wenn du vorbeikommen würdest. Und ich würde mich übrigens auch mal wieder freuen dich zu Gesicht zu bekommen. Sonst enden wir irgendwann noch als Fremde."

Ich seufzte. Und atmete tief durch, um mich wieder zuberuhigen. „Ich überlege es mir, okay?", antwortete ich schließlich, um einen Kompromiss zu machen. Ich hörte ein erschöpftes „Okay" von dem anderen Ende der Leitung, bevor wir beide auflegten.

Doch tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich sowieso nicht zu Weihnachten bei ihnen vorbeikommen werde. Dazu war ich einfach noch nicht bereit. 

Der Winter In DirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt