Kapitel 25

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Kapitel 25

Ich renne so schnell mich meine Beine tragen können und schaffe es in meiner Eile gerade so, nicht über den unebenen Boden zu stolpern.

Du weißt es. Du weißt, dass all das, was er dir erzählt hat, die Wahrheit ist.

Leider muss ich dieser Stimme in meinem Kopf recht geben, obwohl ich es am liebsten nicht täte. Nur zu gern würde ich ignorieren, dass mein Vater in Wirklichkeit ein alkoholabhängiger, skrupelloser Mann war, der seine eigene Frau verprügelt hat. Ob er sich wohl auch jemals an mir vergriffen hat? Ich zittere bei diesem Gedanken und verwerfe ihn sogleich wieder.

An das meiste vor Paulas Tod kann ich mich nicht erinnern, obwohl ich vor diesen dreizehn Jahren, als der Horrortrip für sie begann, bereits drei Jahre alt war und ich bis zu ihrem Tod das Alter von fünf Jahren erreicht habe. Diese Erzählungen wecken nicht die geringsten Erinnerungen in mir. Ich kannte meinen Vater nur als einen liebvollen, fürsorglichen Menschen, der alles getan hätte, um mich glücklich zu machen. Dieser Teil seiner Vergangenheit passt absolut nicht zu ihm und doch ich kann es nicht länger leugnen.

Vollkommen außer Atem bleibe ich bei der Bushaltestelle stehen, um auf den Bus zu warten. Aber wo möchte ich jetzt eigentlich hin? Nach Hause kann ich nicht. Nicht, nachdem ich weiß, was George mir alles verheimlicht hat und wie oft er mich belogen hat, nur um mich zu „beschützen“. Ich könnte auch Nathalie besuchen, falls sie zu Hause ist. Aber wenn ich es mir recht überlege, dann ist Gesellschaft das, was ich im Moment wahrscheinlich am wenigsten suche.

Sofort fallen mir die Klippen ein. Dort bin ich ungestört und allein. Solange Kyle mich nicht sucht – aber falls er das doch tut, findet er mich dort bestimmt.

Als eine knappe Minute später der Bus vor mir anhält, zögere ich einige Sekunden, aber dann stehe ich auf und steige in das graue Fahrzeug ein. Da ich mit Kyle noch am besten klar kommen würde, wäre es eines meiner geringsten Probleme, wenn er herausfinden würde, wohin ich unterwegs bin.

Einige Zeit später steige ich bei meiner Endstation aus und kaum habe ich einen Fuß auf die grüne Wiese neben der Straße gestetzt, beginnt es zu regnen und ich fluche innerlich. Da ich keinen Regenschirm dabei habe, beginnt meine Kleidung sofort, sich mit dem Wasser vollzusaugen, während ich langsam und demotiviert den Hang zu den Klippen hinauf gehe. Die Idee jetzt nochmal umzukehren, ist für mich ausgeschlossen. Ich will nur noch dort nach oben, danach ist mir egal, was mit mir passiert.

Plötzlich höre ich hinter mir das laute Hupen eines Autos und ich zucke zusammen, bevor ich mich schließlich umdrehe. Hinter mir hält ein schwarzer Audi und ich werde das Gefühl nicht los, dass ich wissen sollte, wem er gehört, aber durch den Regen wird meine Sicht verschwommen und ich erkenne den Fahrer nicht. Kyle hat kein Auto, aber wer sollte sonst hier her kommen, um mich abzuholen? Wer könnte noch wissen, wo ich hin wollte? Vielleicht irrt sich hier auch nur jemand und verwechselt mich. Andererseits ist es schon ungewöhlich mit dem Auto diesen Hang hinaufzufahren.

Ich mache ein paar große Schritte auf den Wagen zu und erkenne schließlich, dass Ethan hinter dem Steuer sitzt. Er öffnet die Fahrertür und steigt aus.

„Komm schon, Chloe, ich bring dich nach Hause“, sagt er und lächelt mich gutmütig an. In seiner Stimme liegt weder Ärger, weil er wegen mir hier her gefahren ist und durch den Regen bald genau so nass sein wird wie ich, noch irgendein Anzeichen von Mitleid, weil ich ein verwirrtes, kleines Mädchen bin, dem man den Weg nach Hause weisen muss.

Etwas perplex setze ich mich in den Audi, als Ethan auch wieder einsteigt und den Motor startet. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also beginne ich mit der einen Frage, deren Antwort ich mir derweil nur zusammengereimt habe.

SternträumerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt