Kapitel 4

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Kapitel 4

Obwohl ich nur ein Wimmern heraus gebracht habe, als ich mit Sophie telefoniert habe, scheint sie verstanden zu haben, was los ist und jetzt ist sie auch schon hier und sitzt neben mir auf meiner Bettkante.

„Willst du darüber reden?“, fragt sie mich schließlich irgendwann.

Ich schüttle nur den Kopf, schluchze immer noch und versuche, nicht zu ersticken. Im Moment scheint das Atmen viel zu anstrengend für mich zu sein und ich muss mich ernsthaft darauf konzentrieren.

„Soll ich dir irgendwas erzählen? Als... Ablenkung?“

Erneut schüttle ich bloß meinen Kopf. Seit sie da ist, hab ich kein Wort gesagt. Okay, eigentlich hab ich schon nicht mehr geredet, seit ich mit Onkel George am Boden gesessen bin und ich nicht mehr anders konnte, als zu weinen.

Eine Weile sitzen wir nur schweigend da und obwohl Sophie eigentlich nichts macht, bin ich ihr wahnsinnig dankbar. Einfach für ihre Gegenwart. Allein das tröstet mich, wenn auch nur ein mikroskopisch kleines bisschen. Ich habe meinen Blick stets auf den Fußboden gerichtet und beobachte, wie ein paar meiner Tränen ihren Weg bis zum Ende meines Kinns finden und dann für einen Sekundenbruchteil in der Luft tanzen, bis sie schließlich auf den Boden tropfen. Es kommt mir so vor, als würde ich schon stundenlang hier sitzen, um alles rauszulassen, aber das salzige Wasser aus meinen Tränendrüsen wird anscheinend nie weniger.

Plötzlich schnieft jemand neben mir und ich zucke vor Schreck zusammen. Oh, genau, Sophie ist ja auch noch hier. Meine Augen wandern zu ihr hinüber und ich fühle mich fast, als würde ich in einen Spiegel schauen, der meinen Zustand ein wenig verharmlost. Ihre Augen sind rot angeschwollen und ihr Mascara färbt ihre Wangen an manchen Stellen grau oder schwarz. Bevor ich sie weiter beobachten kann, fällt sie mir auch schon um den Hals und drückt mich so sehr, dass ich mich noch mehr auf meine Atmung konzentrieren muss.

„Es tut mir so verdammt leid...“, flüstert sie durch meine Haare, irgendwo in die Nähe von meinem Ohr.

Ich will ihr antworten und „Schon gut“, „Danke“ oder irgendwas ähnliches sagen, aber ich bringe keinen Ton heraus.

An diesem verfluchten Scheiß-Tag passiert zwar sonst nichts, aber trotzdem vergeht er schneller als erwartet und ich falle abends extrem müde in mein Bett. Mein Kopf ruht mit dem Gesicht nach unten auf dem Polster, sodass meine Nase fast zerdrückt wird. Noch ein wenig fester und länger und vielleicht ersticke ich wirklich. Gerne würde ich mich dieser Verlockung hingeben, aber das kann ich George nicht antun. Oder Sophie. Ich weiß, wie es ist, jemanden zu verlieren.

Und falls ihr euch irgendwann die Frage stellt: Was ist schlimmer? Selbst zu sterben oder dabei zusehen zu müssen, wie andere Leute ihr Leben lassen und man allein zurück bleibt. - Falls ihr euch das jemals fragt, glaubt mir, allein gelassen zu werden ist viel schlimmer.

Das ist das Letzte, woran ich denken kann, bevor ich im Schlaf versinke.

Wasser. Ich kann laut und deutlich hören, wie es irgendwo in meiner Nähe plätschert. Es klingt wie ein Fluss oder ein großer Bach, aber woher kommt es? Alles um mich herum ist dunkel. Vorsichtig öffne ich meine Augenlider und düsteres Licht umgibt mich. Neben mir befinden sich lauter riesige Bäume und als ich meinen Kopf hebe und ihre Baumkronen bewundern will, kann ich sie nicht entdecken. Diese Pflanzen scheinen sich endlos weiter in den schwarzen, sternenlosen Himmel zu erstrecken. Woher stammt denn überhaupt dieses Licht, wenn es hier doch Nacht ist?

Plötzlich dreht sich der Ort um mich herum und sorgt dafür, dass mir schwindelig wird. Eine meiner Hände wandert an meinen Kopf und versucht, mir dabei zu helfen, nicht umzukippen. Seltsam. Diese Hand wirkt so klein und zart. Ich will sie vor mein Gesicht halten, um sie ansehen zu können, aber irgendwie kann ich hier nichts kontrollieren. Was ist das denn eigentlich? Versteckte Kamera bei irgendeiner kranken TV-Show? So ein ausgemachtes Spiel zwischen Freunden und Fernsehleuten, wo sie dich mitten in der Nacht aus deiner eigenen Wohnung entführen und dich dann im Wald aussetzen, in dem lauter Fallen platziert sind, um dir Angst einzujagen? Wohl kaum. Wahrscheinlich träume ich gerade. Ja, das wird es sein. Seltsam, dass ich dabei überhaupt solche Gedanken fassen kann.

SternträumerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt