Prolog

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Prolog

Ich nehme die kalte, frische Nachtluft in mich auf, als wäre ich seit Jahren nicht mehr draußen gewesen. Im Grunde genommen war ich das auch gar nicht. Doch jetzt bin ich frei - endlich kann ich meine Augen öffnen und die Dunkelheit wahrnehmen, die zuvor nur Einbildung war. Ich merke bereits, wie sich ein hinterlistiges Lächeln auf meine Lippen schleicht und versuche, mich zu orientieren.

Dann husche ich so leise und unbemerkbar von Baum zu Baum, sodass man fast glauben kann, ich bin nur ein Schatten. Eigentlich ist es aber völlig unnötig von mir, mich ruhig und unauffällig zu verhalten. Aber das ist wohl immer noch die Macht der Gewohnheit. Mit einem Schaudern erinnere ich mich an die winzige Zelle zurück, in die man mich gedrängt hat. Den Ort, den ich nie wieder verlassen sollte - zumindest war das ihr Plan. Jedoch habe ich ihnen jetzt einen Strich durch ihre „ach so gut durchdachte" Rechnung gemacht. Und es gibt keine Chance mehr, mich zu stoppen. Das Unvermeidliche zu verhindern wird ihnen nicht gelingen. Ihnen nicht und sonst auch niemanden. Nie wieder werde ich in diese stickige Kammer zurück kriechen, die angeblich „das Beste für alle Angehörigen" war.

Während ich diesen Gedanken freien Lauf gelassen habe, bin ich ununterbrochen weiter gelaufen. Immer noch auf der Hut. Diesen Drang des Versteckens werde ich wohl doch nicht so schnell loswerden. Dennoch stehe ich jetzt vor einem riesigen, altmodischen Anwesen. Man könnte es als Villa oder vielleicht sogar Burg bezeichnen. Wie diese typischen, mittelalterlichen Festungen ragt es vor mir auf.

Erleichtert, mein Ziel endlich erreicht zu haben, mache ich mich auf den Weg, hinein zu gelangen. Zuerst erscheint es problematisch, aber dem ist nicht so. Ganz leicht schlüpfe ich durch die Tür hindurch, als würde sie nicht existieren, obwohl ich sie direkt vor mir sehe. Noch während ich Wort wörtlich „in der Tür stehe", breitet sich in meinem Mund der Geschmack von Eisen aus. Und als ich schließlich in dem Gebäude angelangt bin, schaffe ich es nur mit Mühe, den Reflex zu unterdrücken, mich sofort zu übergeben.

Nach einer kleinen Verschnaufpause sehe ich mich erstmals um. Meine Augen wandern von alten Gemälden zu den ockerfarben verzierten Tapeten, dann weiter zu einer wertvoll wirkenden Vase. Nur die elektrischen Lichter, die gedämpft leuchten und an der Decke hängen, zerstören das Gefühl, dass ich durch die Zeit zurück in die Vergangenheit gereist bin. Wäre ich Eigentümer dieses Hauses, hätte ich überall auf den Tischen Kerzen oder Fackeln platziert, um diese „Zeitreise" noch realistischer zu machen.

„Okay, jetzt dann aber ran an die Arbeit!", sage ich leise zu mir selbst. Die ersten Worte, die ich seit meiner Flucht - falls man es überhaupt so nennen kann - ausgesprochen habe.

Komischer Weise weiß ich genau, wo ich lang muss, obwohl ich das letzte Mal vor Ewigkeiten hier war. Fühlt sich an, als wäre das damals ein komplett anderes Leben gewesen. Meine Beine finden den Weg zur riesig wirkenden Holztreppe überraschend schnell und fast von selbst. Dann gehe ich sie mit immer schneller werdenden Schritten hinauf und stürme zur zweiten Tür links. Meine Vorfreude ist schon so groß, dass ich mich kaum noch zurückhalten kann, aber ich bleibe noch vor der dunkelbraunen, mit Einkerbungen versehenen Tür stehen und versuche, meinen Atem wieder zu beruhigen.

Als ich das so halbwegs geschafft habe, gleite ich durch die - normalerweise stabile - Tür hindurch als wäre sie wieder nur eine Illusion. Nichts außer Luft und Staub. Diesmal gewinnt das klebrige Gefühl von Harz die Oberhand in meinem Körper. Für einen kurzen Moment kommt es mir so vor, als würde ich im Boden versinken, wie in Treibsand, doch dann gelingt es mir, einen gewissen Halt zu gewinnen.

Und endlich erblicke ich die Person, die ich gesucht habe. Wegen der ich überhaupt hergekommen bin. Da sitzt er, direkt vor mir in einem alten, gemütlich aussehenden Sessel und liest ein Buch. Den Titel des Buches kann ich nicht erkennen, da er seine Hand davor hält, aber ich erhasche einen Eindruck auf das Cover. Ein silbernes, scharfes Messer ist darauf abgebildet. Was für eine grausame Ironie! Das Grinsen auf in meinem Gesicht wird breiter und meine Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen.

SternträumerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt