Kapitel 19

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Kapitel 19

Vermutlich ist dieser Moment eines der größten Déjà-vu-Erlebnisse, die ich jemals erlebt habe. Allerdings würde es mich jetzt sehr wundern, wenn Emily mich auch über meine verstorbenen Familienmitglieder ausfragen würde – so wie ihr Bruder es letzten Samstag getan hat. Dennoch versuche ich, mich auf alles Mögliche gefasst zu machen, sodass mich von allem, was sie sagt, nichts mehr in irgendeiner Hinsicht verletzen kann.

„Eigentlich ist es lächerlich...“, beginnt sie und setzt ein peinlich-berührtes Lächeln auf. „Ich wollte dich nur fragen, ob es dir etwas ausmacht, wenn Lynn und ich in der Klasse die Plätze tauschen.“

Das war´s? Deswegen wollte sie also mit mir sprechen?

„Ähm, nein-nein eigentlich absolut nicht“, antworte ich.

Emily scheint schon wesentlich erleichterter zu sein und sie setzt sich gegenüber von mir auf das Fensterbrett.

„Danke.“

„Wenn... also wenn ich fragen darf, würde mich der Grund schon irgendwie interessieren...“, meine ich dann doch noch kleinlaut.

„Klar darfst du fragen. Nun ja. Wir scheinen uns in letzter Zeit nicht mehr allzu gut zu verstehen – also Gabby und ich. Du hast vermutlich selber mitbekommen, dass sie wegen der Party ziemlich durch den Wind ist. Und jetzt scheint sie mir die Schuld für alles geben zu wollen.“

Das einzige, das ich erwidere, ist ein kleines, dummes „Oh“, das wie ein Reflex aus meinem Mund kommt.

Dann sitzen wir noch eine Weile schweigend da. Ich weiß nicht so recht wo ich hinschauen soll, bis meine Aufmerksamkeit von einer Bewegung jenseits des Fensters geweckt wird. Von hier aus sieht man eine von Autos unbelebte Straße und ein paar Häuser dahinter. Ein Mädchen geht die Straße immer wieder auf und ab. Erst als ich es genauer betrachte, fällt mir das schwarze, halb zerrissene Kleid auf, das es trägt. Es passt perfekt zu seinen schwarzen, langen Haaren, geht ihm aber nicht einmal über die Knie und ist Ärmellos. Schon allein bei diesem Anblick wird mir eiskalt – wie hält dieses Mädchen es also bei den niedrigen Temperaturen aus, so leicht bekleidet zu sein? Wahrscheinlich haben wir höchstens 10°-15° Celsius.

Das Gesicht kann ich nicht wirklich erkennen, aber es scheint so als wäre das Mädchen ca. in meinem Alter, trotzdem ist es sehr wahrscheinlich keine Schülerin von hier, sonst hätte es die Schuluniform an. Bestehend aus einem schwarzen Rock, weißen Strümpfen und einem weißen Hemd, mit Krawatte – so sieht das bei den Schülerinnen von hier aus.

Von meiner Sicht aus spaziert es die Straße von links nach rechts entlang, dann dreht es sich um und geht von rechts nach links zurück. Immer so weit, dass ich das Mädchen, wenn es sich umdreht, gerade noch sehen kann. Aber wozu macht es das überhaupt?

„Chloe?“, reißt mich plötzlich eine Stimme wieder aus meinen Gedanken, sodass ich meine Augen von dem seltsamen Mädchen abwende. Emily ist schon aufgestanden und in Richtung Ausgang unterwegs, ohne dass ich es bemerkt habe. „Hast du das Läuten nicht gehört? Wir sollten gehen, sonst kommen wir zu spät zum Geschichtskurs.“

„Oh, ja... Doch, ich komme schon.“ Tatsächlich habe ich das Läuten nicht gehört, ich war wohl zu vertieft in... was eigentlich? Fremde Leute anstarren? Ich schüttle alle dämlichen Gedanken ab und stehe auf.

Bevor ich den Raum verlasse, wage ich noch einen letzten Blick zum Fenster. Doch das Mädchen ist weg.

Nach der Schule schreibe ich Kyle eine kurze SMS, in der steht, dass ich mich jetzt auf den Weg zu Nathalie mache. Knappe fünf Minuten später kommt die Antwort, dass er nicht mitkommen kann, weil er den ganzen Nachmittag Basketballtraining hat.

SternträumerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt