18 Virginia

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Teil 2

Der Sommer war in diesem Jahr so unerträglich heiß. Virginia hasste ihn. Es war der Sommer der all das Schöne von dieser Welt verdrängte. Wenn man in einer Stadt wie Sherwood lebte, wusste man die kleinen Nuancen zwischen den Jahreszeiten zu schätzten. Die erste Schneeflocke, das erste welke Blatt, die erste Frühlingsblume. Kleine Anzeichen der Hoffnung, bevor die Stadt in der sengenden Hitze oder den Winterstürmen versank. Sherwood war die schlimmste Stadt. Das hatten die Alten den Kindern immer erzählt, als würden sie ihnen raten, möglichst schnell das Weite zu suchen. Allerdings glaubte Virginia nicht, dass einer von ihnen jemals irgendwo anders war. Vermutlich waren sie jetzt schon alle tot und sie lebte immer noch hier. Hatte nicht das Weite gesucht. Selbst nachdem sie die bittere Kälte und den hässlichen Sommer kennengelernt hatte, war sie nicht gegangen. Vermutlich waren sie alle tot und hatten ihr nicht einmal Lebewohl gesagt.

Sie wäre nicht unglücklich darüber, ihnen zu folgen. Wenn sie sich fest darauf konzentrierte, konnte sie ihren Herzschlag hören. Der Arzt hatte ihren Eltern mal gesagt, sie hätte ein schwaches Herz. Damals hatte sie sich vorgestellt, wie es jeden Moment stehen bleiben könnte. Doch am Ende war die Welt so führsorglich gewesen, dass es immer weiter seiner Arbeit nachkam. Virginia lauschte. Manchmal klang es wie Musik. Wie ein Trommeln, immer im gleichen Rhythmus. Die Tränen die dazu ihr Gesicht mit Salz bedeckten, schienen in diesem Rhythmus zu tanzen.

Die Sonne tauchte alles in ein orange-goldenes Licht. Es war so warm, bedeckte jeden Grashalm, jeden Zentimeter ihrer Haut. Es sollte sie wärmen, es sollte ihr ein zuversichtliches Gefühl geben. Doch Virginia war so verloren in dieser Welt aus Gefühlen, die sich in einzelne Fasern aufdröselten, in einer Welt in der nichts mehr zu dem Anderen passte. Wie sollte ihr die Sonne da noch gut zureden können, wenn sie es nicht einmal selbst schaffte?

Wie sollte sie an das glauben was noch kam? Wie konnten die Tage weitergehen, weiterhin die Zeit verstreichen, ohne Rücksicht auf sie zu nehmen. Etwas schien sich gelöst zu haben, schien sie von dem Rest der Welt zu trennen. Hinter einer dicken Glasscheibe konnte sie dem Geschehen folgen. Doch darauf zugreifen konnte sie nicht. Es blieb ihr nicht mehr, als, wie ein Unbeteiligter, dabei zuzusehen, wie sich alles in Verzweiflung und Schwermut auflöste. Ein Vorgang wie die Jahreszeiten. Unaufhaltsam und zerstörerisch.

Etwas raschelte im Gebüsch neben ihr. Doch Virginia nahm es kaum wahr, war nicht interessiert an ihrer Umwelt, die sich so grell von ihrem grauen Innenleben abhob. Ihr fiel das Atmen schwer. Die Hitze lastete auf ihr. Wie zwei Steine in ihren Taschen, zog es sie zu Boden. Selbst ihre nackten Füße auf dem vertrockneten Grass schienen zu brennen. Bald würde dieses Feuer ihren gesamten Körper verschlungen haben. Dann würde der Teufel auf sie warten, sie in seiner Dunkelheit empfangen.

Die glühende Sonne war bereits vollständig am Horizont verschwunden, ertrunken in der flimmernden Luft, wie ein morsches altes Schiff. Das Zirpen der Grillen füllte die Luft mit der Musik der Natur. Virginia hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, wollte das alles nicht hören, wollte gar nichts mehr hören.

Ihre nackten Füße strichen über den gelben Teppich im Wohnzimmer, der nun nicht mehr voller Staub und toter Fliegen war. Ein befremdliches Gefühl. Sie wollte mit ihren Händen darüberstreichen, sich darin vergraben, bis sie in ihm versank. Dann würde sie mit ihm verwachsen. Wie es sich wohl anfühlen musste, wenn täglich schwere Körper auf einem lasteten? Anne hatte sie einmal in einen Teppich eingewickelt. Umgeben von kratzigen Stofffasern, war sie die Treppe hinuntergerollt, hatte einige blaue Flecken davongetragen, sich den Kopf so hart an der letzten Stufe aufgeschlagen, dass ihr Vater den Arzt rufen musste. Es war die Lust nach Abendteuer, die sie auf diese Idee gebracht hatte. Sie wollte sich fühlen wie dieser Junge, über den man einen Artikel auf der ersten Seite der Morgenzeitung geschrieben hatte. "In einem Weinfass durch ganz Sherwood." war die Schlagzeile. Virginia hatte kein Weinfass und sie wollte mit dem alten kratzigen Teppich auch nicht durch die ganze Stadt rollen. Im Nachhinein wünschte sie sich jedoch sie hätte es getan. Der Arzt hatte gesagt sie könne froh sein sich keine Rippe gebrochen zu haben.

Die Minute des SoldatenOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz