Virginia

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Teil 1:

Es war ein warmer Sommertag, als Virginia mit Blumen im Haar und weißer Spitze an den Ärmeln ihres Kleides in der Kirche saß. Staubiges Licht fiel durch die bunten Fenster der Kapelle und traf auf das Holzkreuz, welches wie ein Mahnmal vor ihnen allen prangte. Festliche Musik ertönte, die Gemeinde erhob sich, richtete ihre Augen auf die Braut, welche mit weißer Schleppe und einem zittrigen Lächeln den Gang in ein neues Leben bestritt. Virginia faltete die Hände, schloss die Augen fest. "So lass uns in dieser Sache keine Schuld treffen", murmelte sie. Ein Satz den sie immer und immer wieder in ihrem Kopf abspielte. Die alte knochige Frau neben ihr, leckte sich über die trockenen Lippen. Wie ein ausgehungerter Hund vor dem Festmahl, dachte Virginia.

Es war die Hochzeit ihrer Schwester an der Virginia am liebsten nicht teilgenommen hätte. Ein widerlich süßer Geruch von Blumen und zähem Honig lag in der Luft. Virginia rümpfte die Nase. Sie blickte durch die Menge. Aufgedunsene, fleckige Haut, gehüllt in ausgefranste Seidenstoffe, auf den Köpfen thronten die Sonnatgshüte und erinnerten sie an den Gockel der Nachbarn.

Sie spähte über ihre, im Gebet gefalteten, Hände, konnte den Bräutigam sehen, dessen Kotletten beinahe bis zur Kinnlinie reichten. Seine brauntrüben Augen lagen gierig auf ihrer Schwester, als sie sich den goldenen Ring an den Finger steckte. Es war natürlich nicht mehr als mit einer dünnen Schicht vergoldet, doch Anne war hellauf begeistert von ihm. Sie war hellauf begeistert von allem, was dieser Mann ins Haus brachte. Als würde es ihr Leben bedeuten, hatte sie jeden Brief von diesem Mann vor Virginia versteckt. Wo Virginia auch suchte, sie konnte keinen einzigen finden. Doch sie hatte sich ausgemalt, wie sie das wertlose Papier in den Händen halten würde und dabei zusehen würde, wie es unter lodernden Flammen zu Asche zerfiel.

"Wie kannst du mich nur mit ihnen alleine lassen?", hatte sie ihr voller Wut entgegengeschrien. Sie spürte wie ihre Wangen heiß wurden und wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete.

"Ich lasse dich doch nicht alleine. Ich heirate nur", hatte ihre Schwester geantwortet. Vernünftige Worte. Vernünftige Worte, die Virginia nicht mehr hören wollte. Sie hasste diesen Mann. Sie hasste ihn für seine ruhige Art, für das zustimmende Nicken, dass er stets einwarf um Annes Aussagen zu bekräftigen. Sie hasste die Abendessen mit ihm und die Fragen, die ihre Eltern ihm stellten. Plötzlich schien sich alles nur noch um die Hochzeit zu drehen. Nicht ein einziges Mal wurde sie gefragt, wie es ihr ginge oder was sie zu all dem zu sagen hatte. Seinen Zenitpunkt erreichte das Ganze, als Virginia die beiden eng umschlungen in Annes Zimmer fand.

"Das dürft ihr nicht! Es ist verboten. Ich werde es Daddy sagen. Er wird es nicht zulassen. Er wird es nicht zulassen, dass ihr heiratet." Ihre Sicht war verschwommen, salzige Tränen befleckten ihr Gesicht, als sie die Treppe hinunterstürmte. Doch es waren starke Arme, die sie aufhielten. Starke haarige Arme, die sie zu ihm herumrissen und sie zwangen in seine trüben Augen zu blicken.

"Nichts dergleichen wirst du tun, verzogenes kleines Mädchen.", sagte Theodor. Anne stand hinter ihm, blickte sie mit vor Zorn gerötetem Gesicht an.

Und nun saß sie hier. Hatte nichts gesagt, hatte einfach nur dabei zugesehen, wie er sie zum Altar führte. Sie hasste die Vorstellung mit ihren Eltern alleine gelassen zu werden. Sie hasste es, wie ein Kind behandelt zu werden, während Anne ihre neuen Freiheiten genoss.

Magensäure bahnte sich ihren Weg in ihren Mund. Sie schluckte. Ein bitterer Geschmack breitet sich aus. Sie wollte Anne an den Haaren ziehen, ihr den weißen Schleier vom Kopf reißen, bis sich ihr sanftes Lächeln in eine hässliche Grimasse wandelte. Nur ihr sollte dieses Lächeln gehören. Es war das Lächeln, dass sie ihr immer zugeworfen hatte, wenn sie nachts zu ihr unter die Decke gekrochen war, zitternd und geplagt von bösen Träumen.

Die Minute des SoldatenWhere stories live. Discover now