10 | Das wahre Glück.

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Dascha

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Er hat nicht geantwortet.
Fedja hat mir keine Antwort auf meine Nachricht gegeben.

Ich verbrachte den Abend allein mit dem blauäugigen Monster, bis es für sie Zeit war ins Bett zu gehen.
Und für mich auch.

Heute liege ich stundenlang in meinem Bett, lustlos.
Ich finde keine Motivation, aufzustehen und in einen Tag zu starten, welcher mir keinerlei Gewinn bringt.
Es ist alles Sinnlos.
Ich bleibe die ganze Nacht lang wach und starre aus meinem Fenster.

Die Folgen sind, dass ich halbschlafend im Bus sitzend, beinahe meine Haltestelle verpasse.
Am liebsten wäre ich heute gar nicht gekommen, doch meine Mutter hat mich gestern schon nicht in die Hölle geschickt.
Sie hat ausnahmsweise etwas Mitgefühl gezeigt.
Laut meiner Aussage hatte ich gestern starke Kopfschmerzen.

Meine erste Stunde ist Englisch.
Wie sehr ich dieses Fach hasse.
Alle Fächer.
Unmotiviert schlendere ich zu meinem Spind und hoffe, ein Klavier fällt endlich auf mich und beendet es.
Mit einem Backstein wäre ich auch zufrieden.

Ich höre mehrere Stimmen hinter mir Murmeln, eine lebensfroher als die andere.
Sie erzählen dumme, kindische Sachen.
Wie sehr sie ihre Eltern hassen, oder über irgendeine Band.
Normalerweise höre ich nicht hin, aber eine Tatsache wundert mich.
Eine von ihnen erkenne ich.
Ich würde sie überall wieder erkennen.

Ruckartig drehe ich mich um und sehe das Schwarzhaarige Arschloch in der Nähe unseres Klassenraumes stehen.
Das Brünette Mädchen neben ihm.
Was zum Teufel macht er hier?
Schon wieder?

Mein Schlendern und der Wunsch nach dem Klavier aus dem Himmel sind verschwunden.
Ich bin froh, dass er da ist.
„Fedja, Was machst du denn hier?"
Die beiden schauen mich an.
Die Brünette Schlampe zu mir hoch, Fedja auf mich herab.

„Ich hatte mal Lust auf Schule."
Schulterzuckend legt er einen Arm um das Mädchen.
Sie lächelt ihn verliebt an.
Ekelhaft.
Die Klingel läutet, und die Schülergrüppchen lösen sich allmählich auf.

„Ich hab jetzt Mathe. Bis später?"
Fedja nickt ihr zu.
„Ja, ich warte auf dich."
Die Brünette küsst Fedja und geht in eine andere Richtung davon.

„Alter." Fedjas Aufmerksamkeit liegt nun auf mir.
Nicht ganz ungeteilt versteht sich.
Aber das ist okay.
„Du fickst sie also wirklich?"
Auf seinen Lippen bildet sich ein arrogantes Grinsen.
„Noch nicht."

Fedjas Blick wandert auf etwas bestimmtes hinter mir.
Etwas interessantes.
„Hör zu, wir sprechen uns später nochmal okay?"
Ich nicke, sehe ihm verwirrt hinterher als er durch den Haupteingang verschwindet.

Den restlichen Schultag sprechen wir kein ein Wort mehr miteinander.
Er hat erneut gelogen.
In den Pausen ist Fedja bei seiner Brünetten Schlampe, in den Unterrichtsstunden taucht er nicht auf.
„Willst du noch mit zu mir kommen? Wir haben auch Bier Zuhause." Fange ich Fedja ab, bevor er in die Freiheit stürmen will.
Hinter ihm sein Anhängsel.

„Sorry, man." Er klopft mir brüderlich auf die Schulter.
Eine Geste, die er nur allzu häufig verwendet.
„Ich bin schon verabredet."
Mit diesen Worten lassen die beiden mich stehen, wobei seine „Freundin" mir entschuldigend Zulächelt.
Auf Fedjas Lippen dagegen liegt ein arrogantes Grinsen.

Ich sehe, wie die beiden sich voneinander verabschieden, als würden sie sich nie wieder sehen.
Es sind bloß Zwölf Stunden.
Zwölf Jämmerliche Stunden, dann sind wir alle wieder in diesem Höllenfeuer gefangen.

Ich setze mich in den Bus und bete dafür, dass mein Alltag mich nicht wieder in ein schwarzes Loch zieht.
„Ich bin Zuhause."
Keine Antwort.
„Mama?"
Wieder keine Antwort.
Der Unfall ist auch verschwunden.
Kurz denke ich, sie ist abgehauen.
Hätte sich ihr Lieblingskind geschnappt, und den kaputten, wehleidigen Sohn zurückgelassen.
Doch ich habe mich zu früh gefreut.

Am Kühlschrank klebt ein Zettel, sie ist mit Mila auf dem Spielplatz und würde in kürze wieder zurück sein.
In Kürze.
Von mir aus kann sie auch im Grabe liegen.
Drei Meter unter der Erde.
Die Vorstellung ist Verlockend.
Wobei die Vorstellung, dass ich anstatt meiner Mutter unter der Erde liege, mir persönlich viel besser gefällt.

Ich pflanze mich auf das beige Sofa, und schalte den Fernseher ein.
Eine Sendung mit ein paar Jugendlichen läuft.
Scheiß Super RTL.
Sie sind einen Sommer lang allein ohne ihre Eltern und haben Spaß mit ihren Freunden.
Der älteste von ihnen ist in meinem Alter.
Sein Name ist Leon oder vielleicht auch Nick, und er zündet gerade eben den Grill an.
Die Freunde wollen an irgendeinem Strand zusammen essen.

Ich denke an mich.
Bemitleide mich.
Ich sitze alleine mit nichts als einem Glas alter Cola auf dem Sofa und passe auf, ja nicht zu kleckern.
Ich zünde keinen Grill an.
Ich bin nicht wie Leon.
Ich bin Langweilig.
Ich habe auch noch nichts bewegendes oder traumatisierendes erlebt.
Habe keine interessanten Urlaube gemacht.
Ich habe noch nie in meinem Leben jemals etwas getan, was mich zu hundert Prozent Glücklich gemacht hat.

Ist es überhaupt möglich zu einhundert Prozent glücklich sein?
Ich glaube nicht.
Der Mensch findet immer einen Weg, sich selbst das Glück zu zerstören.
Das wirklich wahre Glück.

Menschen, welche im Fernsehen immer erzählen was für ein Glück sie doch haben oder wie dankbar sie für ihre Familie sind.
Lügen.
Es sind alles Lügner.
Die ganze verfickte Menschheit ist eine einzige Lüge.

„Dascha?"
Meine Mutter trägt die müde Mila auf dem Arm und begrüßt mich.
„Denk bitte dran das Glas wieder zurück in die Spüle zu stellen, wenn du es ausgetrunken hast."
Langweilige Konversation, Mutter.

Der Kreislauf beginnt von vorn, und er wird niemals enden.
Nicht, solange ich lebe.

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Die Monster unter meinem Bett. Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt