Horizont

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Hell strahlte die Sonne vom wolkenlosen Himmel herab und wärmte den feuchten, braunen Sand unter Vics Füßen. Die Wellen hatten ihre Spuren längst fortgespült. Nun sah es aus, als würde sie schon immer an dieser Stelle stehen. Als wäre sie niemals an einem anderen Ort gewesen. Wie ein Fels in der Brandung verharrte sie im Wasser, welches in rhythmischen Abständen um ihre Knöchel schwappte.

Einsam war das erste Wort, welches den anderen Menschen bei ihrem Anblick in den Sinn kam. Das dünne, weiße Kleid flatterte in der Sommerbrise und doch konnte die junge Frau nicht verhindern, dass sie zitterte. Es war so fürchterlich kalt in ihrem Leben und nichts schien sie erwärmen zu können.

Den Blick auf den Horizont gerichtet lauschte sie der Stille, welche nur durch das sanfte Rauschen der Wellen durchbrochen wurde. Andere Menschen würden diesen Anblick bestimmt als wunderschön bezeichnen. Vielleicht entdeckten sie sogar ihre Zukunft in den endlosen Weiten und philosophierten dabei über Herausforderungen und neue Ziele.

Vics Sicht war eine völlig andere. Das Bild zeigte ihr lediglich die Einsamkeit. Es war ein Spiegel des Zustands, der ihre Gedanken gefangen hielt. Der Horizont war ein endlos langes Nichts. Keine neuen Abenteuer und auch keine neuen Ziele verbargen sich darin. Nichts befand sich dort außer einer endlosen Leere.

Genauso leer wie der Horizont fühlte sich auch Vics Kopf an. Ihre Gedanken waren fürchterlich träge. Ihre Arme fühlten sich so schwer an, dass sie sich nicht einmal die lose Strähne, die im Wind flatterte, hinter ihr Ohr stecken konnte. Ihre Beine waren nicht mehr in der Lage sie an einen anderen Ort zu tragen. Nicht einmal den Blick konnte sie von der weiten Ferne abwenden.

Eine Welle der Versuchung überrollte die junge Frau. Sollte sie sich einfach fallen lassen? Es wirkte verlockend sich dem Nichts hinzugeben. Vielleicht würde die Last dann von ihren Schulter genommen werden.

Schleichend langsam watete Vic tiefer ins Wasser. Der Stoff ihres weißen Sommerkleides berührte die sanften Wellen. Das kühle Nass sog sich gierig daran hoch. Das Kleid wurde schwer. So schwer wie alles andere in ihrem Leben. Es fühlte sich an, als wollte es sie nach unten ziehen.

Wie einfach wäre es, in diesem Moment nachzugeben? Vic könnte weiter ins Wasser gehen und sich langsam hineinsinken lassen. So tief hinein, bis sich die Wellen über ihr schlossen. Es würde einige Sekunden, vielleicht eine ganze Minute dauern, bis die Luft aus ihrer Lunge verschwand und der Überlebensinstinkt einsetzte.

Überlebensinstinkte, was für eine Verschwendung! Vic wusste bereits, dass sie sich über diesen primitiven Drang, am Leben zu bleiben, hinwegsetzen konnte. Wenn alles in ihr danach schrie sich an die Oberfläche zu kämpfen, würde die Schwere ihrer Gedanken sie daran hindern. Die Schwere und das Nichts siegten immer.

Gerade als die junge Frau den nächsten Schritt machen wollte, schlossen sich kräftige, von der Sonne gebräunte Arme von hinten um ihre schmale Taille. Ein sanfter Ruck. Ihr Rücken wurde an eine starke Männerbrust gepresst. „Ich weiß, woran du denkst", hauchte eine tiefe Stimme an ihrem Ohr, während sein Atem über ihre Wange strich.

Als hätte sie sich soeben zurück an die Wasseroberfläche gekämpft, schnappte Vic nach Luft. Sie schmeckte Salz auf ihren Lippen und spürte seine Wärme auf ihrer Haut. Etwas in ihr erwachte zu neuem Leben.

Dave hatte recht. Er wusste, woran die junge Frau dachte. Er kannte das Nichts, welches sie seit Jahren verfolgte und wusste, dass es vielleicht niemals zur Gänze verschwinden würde. Dennoch akzeptierte er Vic. Er wollte sie nicht verändern.

Haltsuchend schlang sie die Finger um sein Handgelenk, als wäre er ihre Rettungsleine. Seine Umarmung schenkte ihr neue Kraft. Er holte sie zurück in diese Welt, die nun aus mehr als einem endlosen Horizont und rhythmisch schwappenden Wellen bestand.

Dave war der Fels in der Brandung, welcher auch den Gezeiten standhielt. In der Finsternis war er der Stern, der ihr den Weg zeigte und ihr Orientierung schenkte. Seine Stimme war es, die die endlose Stille ihrer Gedanken durchdrang.

„Halt mich fest", bat Vic mit belegter Stimme. Das Nichts zerrte an ihr, wollte sie nicht entkommen lassen. In ihren Ohren klang alles dumpf. Daves Arme schlossen sich fester um ihre Taille. Sie bildeten einen starken Schild, der sie vor sich selbst bewahrte.

Das Gesicht in ihren braunen Locken vergraben fühlte es sich beinahe so an, als würde auch er sich an ihr festhalten. Komisch, dachte Vic, wie sollte sie jemandem Halt geben? Immerhin befand sie sich stetig mit einem Fuß am Rand des Abgrunds zu dem endlosen Nichts. Ohne Dave wäre sie bestimmt längst hinabgestürzt.

„Du kannst nicht fallen. Du kannst auch nicht untergehen. Ich halte dich. Nichts kann daran jemals etwas ändern, Vic. Ich bleibe hier. Du gehörst zu mir. Das Nichts kann so lange nach dir rufen, wie es möchte. Ich lasse dich nicht los. Nie wieder. Ich gehe nicht weg. Du bist nicht mehr alleine."

Die Sicherheit seiner Worte drängte das Nichts immer weiter zurück. Für ein paar Sekunden schloss Vic die Augen und schöpfte Kraft aus seiner Nähe. Es war nicht das erste Mal, dass Dave ihr dieses Versprechen gab. Ein Versprechen, welches er an diesem Tag mit einem Gelübde und einem Ring besiegelt hatte.

Als die junge Frau die Augen wieder aufschlug, fiel ihr Blick erneut auf den fernen Horizont. Nun erkannte sie darin unzählige Möglichkeiten. Ihr Leben war eine Herausforderung. Es würde niemals einfach sein. Es gab unendliche Tiefen, in denen das Nichts ihr auflauerte, und doch gab es auch Höhen. Nun war sie bereit dafür. Vic würde sich der Zukunft stellen, denn sie war nicht mehr alleine.

Moments of TimeWhere stories live. Discover now