Kapitel 60 - Der Plan, der Vertrauen erforderte

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Sie brauchten beinahe eine ganze Woche bis nach Graz. Aaron hatte sich inzwischen so weit erholt, dass sie ihm ein neues Pferd gekauft hatten. Er konnte bereits wieder selbstständig reiten. So kamen sie schneller voran und hatten weniger Probleme mit dem Transport des Gepäcks.

Unterwegs erzählte sie Aaron die gesamte Geschichte. Er war der einzige, der noch nicht alles mit angehört hatte, daher wollte sie ihn auf denselben Wissensstand bringen wie die anderen. Der Fährtenleser hörte ihr gebannt zu. Ihre Geschichte beantwortete viele der Fragen, die er ihr bereits oft gestellt hatte.

Als er erfuhr, dass sie die Tochter des Königs war, zog er scharf die Luft ein. Damit hatte er nicht gerechnet. Seitdem war sein Verhalten ihr gegenüber anders. Respektvoll. Ehrfürchtig bis hin zu demütig.

Annell gefiel das gar nicht.

In einem Wald, ein Stück von Graz entfernt, schlugen sie ihr Lager auf, um sich vor dem Eintritt in die Stadt zu beraten. Rubiernern wurde grundsätzlich misstraut, daher konnten sie nicht einfach hineinmarschieren. Besonders in der Dunkelheit würde man sofort eine verbrecherische Tat vermuten.

Das Feuer brannte nur spärlich. Eine zu große Feuerstelle wäre auffällig gewesen, außerdem war der Wald feucht und stellte ihnen nicht gerade viel brennbares Holz zur Verfügung. Dennoch saßen sie alle um die flackernde Licht- und Wärmequelle gedrängt.

Fliel stöhnte und stützte sich schwer auf seinen Händen ab. Zum ersten Mal seit langem begann er wieder ein Gespräch. Sein Wort galt Annell. „Ich bin mir ja nicht sicher, ob es stimmt, was du sagst und ob du vielleicht wirklich Kirdefs Tochter bist. Aber wenn es so ist, möchte er dich sicher sehen.“ Er gähnte erschöpft. „Wir müssen uns irgendwie überlegen, wie wir dich da reinbekommen, ohne dass die Menschen merken, dass mein Vater mit Rubiernern verhandelt.“

Auf seine Worte herrschte überraschtes Schweigen. Sagte er die Wahrheit?

 „Warum hilfst du uns?“, fragte Annell ihn geradewegs heraus. Sie war es leid und wollte diese Frage nun endlich geklärt haben. Das granitische Volk hätte es sicherlich missbilligt, zu erfahren, dass sein König ein Kind mit einer verfluchten Hexe hatte. Fliel lief Gefahr, sie dem Volk zu präsentieren und Kirdef einen lästigen Klotz ans Bein zu binden. Andersherum hätte ihm niemand etwas vorgeworfen, hätte er zwei anonyme, rubiernische Spione ermordet. Die Sache wäre ein für alle Mal erledigt und würde niemals auffliegen.

Dennoch half er ihnen. Wo steckte der Sinn hinter alledem? Was wollte Fliel erreichen?

Der Prinz starrte einen Moment lang grimmig ins Feuer. „Mein Königshaus hat eine Menge ehrenwerter Eigenschaften, denen ich gerecht werden muss.“ Er klaubte einen Zweig vom Boden auf und drehte ihn in den Händen. „Die granitische Königsfamilie lügt nicht. Sie begeht keine Verbrechen, bricht keine Versprechungen. Sie tut alles, um die Ehre und Einheit der Familie aufrecht zu erhalten.“ Mit einem vielsagenden Blick fixierte er Annell. „Sie hat einen Ruf zu wahren, der unter dem Volk geschätzt, wenn nicht gar verehrt wird. Und das nicht nur zum äußeren Schein, wie die Rubierner es tun.“

Aaron sog scharf die Luft ein, hielt sich jedoch mit scharfzüngigen Kommentaren zurück.

Annell musste dem Prinzen widerstrebend Recht geben. Das rubiernische Königshaus hielt tatsächlich einen gewissen Schein der Unangreifbarkeit und der Gerechtigkeit aufrecht, der praktisch nicht immer umgesetzt wurde.

Doch wieso sollten die Graniter da anders sein? Niemand war perfekt, besonders dann nicht, wenn es darum ging, die Gunst des eigenen Volkes aufrecht zu erhalten.

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