Kapitel 39 - Alte Geschichten und Wein

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„Annell – eine so hübsche, junge Frau, stark und klug – Eine Spionin aus Rubien?“ Ein Hauch von Alkohol begleitete Fliels Bewegungen, während er sich neben ihr auf dem morschen Baumstumpf niederließ. „Das ist wirklich nur sehr schwer vorstellbar. Wie kam es dazu?“

Annell rutschte vorsichtshalber ein Stück zur Seite. Sie traute dem granitischen Prinzen nicht recht über den Weg.

„Ich werde gut bezahlt.“, entgegnete sie schlicht und ignorierte ihre kribbelnde Nase. Ihren Blick hob sie nicht von den tanzenden Flammen des Lagerfeuers. Die Nacht umgab sie sicher und verbergend. Sie fühlte sich wohl in der Dunkelheit. Gedankenverloren spielten ihre Hände mit einem kahlen Zweig. „Was bringt einen granitischen Prinzen dazu, im Wald ausländische Eindringlinge zu jagen?“

Fliel starrte ebenfalls missmutig in die Flammen. „Die Thronfolge. Ich bin der fünfte Sohn. Kaum eine Möglichkeit, jemals das Land zu regieren.“, er nahm einen großen Schluck aus einem Weinschlauch. „Ich brauche also eine andere Beschäftigung. Verbrecher zu jagen erscheint mir eine lobenswerte Arbeit.“ Er starrte grimmig in den dunklen Schlund seines Schlauches. Dann hielt er ihn Annell hin. „Auch einen Schluck?“

Annell nahm einen großen Zug. Der Wein war stark und breitete eine angenehme Hitze in ihrer Kehle aus. „Das kann ich verstehen. Wenn man keine andere Alternative hat, muss man sich eben eine suchen.“ Sie ließ ihre Hände weiter mit dem Stöckchen spielen. „Ich brauche mir darum vermutlich keine Gedanken mehr zu machen, oder? Unsere Länder stehen kurz vor dem Krieg. Was machen eure Richter mit vermeintlichen Spionen?“

„Vermeintlich?“ Selbst in seinem angetrunkenen Zustand hörte er so aufmerksam zu wie ein Fuchs auf der Jagd. Obwohl sie das schon vermutet hatte, musste sie doch zugeben, dass sie beeindruckt war. An seiner Stelle hätte sie das Wort vermutlich überhört.

Sie verkniff sich ein Lächeln. „Sieh uns eher als Boten.“

Fliel wurde misstrauisch. „Boten“ Sie spürte seinen kritischen Blick an der Schläfe. “Mit welcher Nachricht? Und für wen?“

Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, ihm so viel zu erzählen, doch im Grunde – warum eigentlich nicht? Vielleicht erreichten sie mit seiner Hilfe doch noch das Ziel. Ein Tröpfchen Hoffnung begann, sich in ihren Verstand zu schleichen. Wenn sie ihn überzeugen konnte…

„Für deinen Vater.“ Sie schien unbeteiligt, bemerkte jedoch seinen wachsenden Unglauben.

„Dann hättet ihr freies Geleit bekommen. Selbst im Krieg. Ein Bote mit einer wichtigen Nachricht versteckt sich nicht im Wald. Warum seid ihr wirklich hier?“

Sein berechnender Blick bohrte sich in ihre Schläfe, doch Annell rührte sich nicht. Es würde schwierig werden, ihn zu überzeugen, das wusste sie. Doch vielleicht würde es ihr gelingen und dann könnte alles anders kommen. Sie bemühte sich weiterhin, möglichst unbeeindruckt zu wirken und ihren teilnahmslosen Blick auf den Flammen ruhen zu lassen. Doch ihre Sinne waren zum Zerreißen gespannt.

„Kennst du eigentlich das Geheimnis, Fliel?“, begann sie mit ruhiger Stimme. „Zwischen deinem Vater und dem rubiernischen König?“

Jetzt schaute sie doch zu ihm auf. Seine klaren, blauen Augen funkelten aufmerksam in der Nacht. Er war immer noch misstrauisch, schien jedoch zu überlegen, ob er ihr die Changs gab, ihre Glaubwürdigkeit zu beweisen. Gut so. Wenn sie sein Interesse weckte, hatte sie etwas gegen ihn in der Hand.

„Ich weiß, dass sie seit Jahren erbitterte Erzfeinde sind.“, erklärte er bedächtig.

„Aber weißt du, warum?“ Sie freute sich diebisch über sein ahnungsloses Gesicht und kostete den Moment gnadenlos aus. „Dein Vater hat es dir nie erzählt.“ Mit einer fordernden Geste wies sie auf den Weinschlauch, den Fliel ihr bereitwillig aushändigte. Sie nahm einen tiefen Schluck. Dann schaute sie wieder in die Flammen und fing bedächtig an zu erzählen.

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