Kapitel 33 - Kindheitserinnerungen

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Aaron und Annell verließen die Hütte der Seherin am Morgen. Anita hatte sie gehen lassen, nachdem sie Aarons Wunde noch einmal gründlich verbunden und mit ihnen noch einmal alle Punkte ihrer hirnrissigen Theorie durchgegangen war. Annell glaubte immer noch nicht daran, dass es funktionierte, doch Aaron hegte noch Hoffnungen. Ihm zuliebe war Annell noch nicht über alle Berge. Ihm zuliebe würde sie versuchen, die Prophezeiung abzuwenden. Obwohl sie laut Anita ohnehin kaum etwas dazu beitragen konnte.

Aaron war derjenige, der die Vision stoppen konnte.

Sie hatten nur wenige Meter hinter sich gebracht, als Annell plötzlich stoppte und lauschte.

Schmatzende Schritte im Schlamm. Ein unnatürliches Geräusch in einem Wald, in dem es kaum Tiere gab. Aaron spannte alle Muskeln an. Er hatte es auch bemerkt.

Noch ein Geräusch. Knackende Äste. Jemand versteckte sich in den Büschen.

Langsam und um möglichst wenige Geräusche bemüht, nahm sie Aarons Hand und zog ihn zurück zur Hütte.

Sie kamen nur wenige Schritte weit. Ein hochgewachsener Mann stand breitbeinig vor Anitas Haus und versperrte ihnen den Weg. Er trug eine glänzende Rüstung und einen Helm. In seiner rechten Hand hielt er locker eine lange, schmale Waffe.

Jetzt kamen mehrere Männer aus dem Gebüsch hervor und umzingelten sie. Die meisten von ihnen trugen einfache Kleidung – vermutlich Söldner. Viele hielten Bögen, die sie mit gespannter Sehne auf sie richteten.

Es waren zu viele.

Annell starrte wütend die fremde Person in der Rüstung an, welche in eben diesem Moment ihren silbrigen Helm vom Kopf nahm. Hervor kam ein junger Mann mit einer wilden, blonden Haarmähne und einem schadenfrohen Grinsen im Gesicht. Er sprach mit einem leichten granitischen Akzent.

„Endlich habe ich euch.“ Er lachte gehässig, „Ergebt euch, ihr könnt sowieso nicht mehr entkommen.“

Annell musste ihm widerwillig Recht geben. Es sah wirklich aussichtslos für sie aus. Im Stillen fluchte sie ärgerlich. Da waren sie so viele Tage entkommen und jetzt direkt in die Falle getappt wie zwei unvorsichtige Kaninchen. Mit bewusst langsamen Bewegungen zog sie ihr Schwert und legte es vor sich auf den Boden. Es folgten ihr Bogen und die Pfeile. Dann trat sie zwei große Schritte zurück. Aaron tat es ihr gleich und ließ seinen Dolch neben ihren Sachen zurück.

Die Soldaten entspannten sich erst, als die Waffen außer Reichweite waren. Schweren Herzens sah Annell dabei zu, wie zwei von ihnen ihre kostbaren Waffen einsammelten. Die würde sie vermutlich nicht wiedersehen.

Der blonde Mann in der Rüstung fuhr sich mit einer behandschuhten Hand durch die wirren Haare und fixierte sie mit aufmerksamem Blick.

„Habt ihr beiden überhaupt eine Ahnung, was ihr für ein Chaos verursacht habt? Zwei Rubierner in Granata, die frei herumlaufen – so etwas macht den Menschen Angst!“, er trat einen bedrohlichen Schritt auf sie zu. „Ihr seid ab sofort meine Gefangenen. Ihr kommt mit mir nach Gelexis, dann wird der Richter entscheiden, wie man mit euch verfahren wird.“

Annells Augen funkelten erbost. Ihr fiel nichts ein, was sie erwidern konnte. Es sah wirklich schlecht für sie aus. Sie waren in dieses Land eingedrungen und entdeckt worden. Nach dem Gesetz unterstanden sie nun den Vertretern Granatas. Sie wusste nur zu gut, was mit ausländischen Eindringlingen normalerweise geschah. Und sie wusste, wann es besser war, aufzugeben. Trotzdem machte sie erhobenen Hauptes einen Schritt auf den Blondschopf zu.

„Nennt mir Euren Namen!“, verlangte sie. Wenn sie schon eine Gefangene war, dann wollte sie zumindest wissen, von wem. Außerdem wollte sie etwas Würde zeigen. Egal, welches Ende die Geschichte nahm, nicht im Traum dachte sie daran, ihn auf Knien um Gnade anzuflehen. Das hatte sie oft genug mit angesehen.

Das Tagebuch - Ein Traum aus TinteWhere stories live. Discover now