Kapitel 7 - Annell

338 23 7
                                    

Zusammen gingen sie über den Schulhof. Das Wetter war warm und sonnig. Ilan verabschiedete sich und ging in den Chemie-Raum.

Lena hatte frei. Sie setzte sich auf ein Stück Rasen in der Nähe und starrte in die Wolken. Dann tat sie etwas, was sie schon lange nicht mehr gemacht hatte. Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf, ließ sie um sie herum kreisen, zu dem Vögelchen, das auf einem Baum saß, zu ein paar Fünftklässlern, die lachend über den Hof rannten.

Es dauerte kaum fünf Minuten, da drifteten Lenas Gedanken wieder zu dem Thema, das sie eigentlich vermeiden wollte: Ihrer Mutter.

Was würde sie sagen, wenn sie sie jetzt sehen könnte? Wäre sie sauer, dass sie ihren Vater so angeschrien hatte? Würde sie ihr vergeben und sie in den Arm nehmen?

Lena spürte, wie Tränen in ihre Augen drangen und versuchte, die Gedanken wieder zu verdrängen, doch es gelang ihr nicht. Die schmerzhaften Erinnerungen prasselten jetzt nur so auf sie ein. Unaufhaltsam und unendlich quälend. Sie hatte gar keine Möglichkeit, sich zu wehren. Die Trauer überflutete sie und nahm ihr fast die Luft zum atmen.

Die schmerzhafte Erkenntnis durchzuckte sie wie ein Blitz: Ich werde sie nie, nie wiedersehen.

Trotzig schüttelte sie sich und zwang sich, sich zu konzentrieren. Nach wenigen Minuten gaben ihre Gedanken endlich wieder Ruhe. Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und suchte krampfhaft nach einer Möglichkeit, sich abzulenken. Ihr Blick fiel auf ihre Tasche. Bestimmt konnte ihr etwas von dem Inhalt ein wenig Ablenkung verschaffen. Hastig wühlte sie in ihrem Krempel herum, fand aber nichts, womit sie sich beschäftigen konnte.

… Mir hat es damals geholfen, Tagebuch zu führen.

Lena stutzte. Wer hatte das nochmal gesagt? Angestrengt dachte sie nach. Das war Paul, gestern Abend, als er mir das Buch gegeben hat…

Das Buch hatte sie in eine der Taschen gesteckt. Mit etwas Glück war es vielleicht in dieser.

Lena durchsuchte die Seitentaschen. – Tatsächlich! – Ihre Finger schlossen sich um das kleine Büchlein. Jetzt hatte sie Zeit, es sich genauer anzusehen.

Dafür, dass es so klein war, war es ziemlich dick. Es hatte einen dunkelroten Einband mit zurückhaltenden verschnörkelten Verzierungen an den Rändern. Ansonsten war es schlicht.

Lena öffnete es. Die erste Seite hätte sie beinahe verschlagen, sie wurde vom Einband mitgezogen. Auf ihr stand in sauberer Schrift:

Tagebuch von Lena

Sie holte einen Stift aus ihrer Tasche und legte sich bäuchlings zurück ins Gras. Dann schlug sie die erste Seite um.

Eine leere, weiße Seite kam zum Vorschein. Lena runzelte die Stirn. Was sollte sie jetzt schreiben? Sie hatte noch nie ein Tagebuch besessen und so etwas immer als Unfug abgetan. Sie wusste auch gar nicht, wie sie ihre Erlebnisse zu Papier bringen sollte. So etwas wollte schließlich niemand lesen. Lena schrieb spannende Geschichten und keine Tagebücher.

Plötzlich hatte sie eine Idee. Was, wenn sich beides miteinander kombinieren ließe?

Sie überlegte kurz, setzte dann den Stift an und begann, zu schreiben.

Wie ein seidenes Tuch breitete sich der dunkle Himmel nach allen Seiten aus. Die Wolkendecke hatte sich wieder verzogen und gab so den Blick auf sämtliche Sterne frei. Sie leuchteten hell und majestätisch am Weltendach. Der Mond hatte in dieser Nacht die Form einer schmalen Sichel angenommen und spendete nur wenig Licht. Die Wipfel der Bäume wogten sanft im auffrischenden Wind.

Annell fröstelte. Sie schaute wehmütig auf ihre abgelegten Kleider, die sie zum trocknen am Feuer ausgebreitet hatte. Sie waren noch immer tropfnass. Der heftige Regen hatte Annell bis auf die Knochen durchnässt. Um nicht auf dem schlammigen Boden hocken zu müssen, hatte sie sich auf einer ihrer klammen Decken ausgebreitet.

Aaron schlief. Es war eine Herausforderung für ihn gewesen, das Feuer überhaupt in Gang zu bringen. Es gab nur noch feuchtes Holz in dieser Gegend zu finden. Annell hatte keine Ahnung, wie er es überhaupt geschafft hatte, das nur schwächlich brennende Feuer zu entzünden. Sie beobachtete es in der ständigen Angst, es könnte wieder erlöschen.

Eine frische Bö ließ sie vor Kälte zittern.

„Frierst du?“

Anscheinend hatte er doch nicht so fest geschlafen, wie sie gedacht hatte. Kein Wunder, in dem unbequemen, klammen Stoff.

„Ein wenig.“, log sie. Sie wollte keine Schwäche zeigen. Aaron ließ sich neben ihr auf die Decke sinken. Ihre Schultern berührten sich kurz und sofort spürte Annell die wohltuende Körperwärme des anderen. Unwillkürlich rückte sie ein kleines Stückchen näher.

Sie starrten schweigend ins Feuer, das, trotz ihrer beharrlichen Bemühungen, immer kleiner wurde.

Annell schielte unauffällig zu Aaron hinüber. Er hatte ebenso schwarze Haare wie sie selbst. Sie hingen ihm in nassen Strähnen in die Stirn. Seine Augen hatten die Farbe von poliertem Silber. In ihnen spiegelte sich der schwache Schein des Feuers. Sein Gesicht war schmal und sauber rasiert. Ihr war vorher nie aufgefallen, wie gut er im Grunde aussah.

Nach einer Weile bemerkte der Fährtenleser ihren Blick. Er drehte sich zu ihr um und lächelte. Sein Lächeln verursachte ein ungeahntes Ziehen in ihrer Brust und sie konnte nicht anders, als zurückzulächeln.

Das Tagebuch - Ein Traum aus TinteWhere stories live. Discover now