Kapitel 30 - Gefühlschaos

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Aaron und Annell starrten die Seherin mit offenen Mündern an. Damit hatte keiner von ihnen gerechnet.

Anita goss sich seelenruhig eine Tasse Tee ein und trank daraus. Sie beobachtete sie über den Rand hinweg, die Augenbrauen theatralisch in die Höhe gezogen, als wäre sie überrascht über die Reaktion.

„Kam die Frage zu plötzlich?“

Sie setzte ihre Tasse mit einer Unschuldsmiene auf dem Tisch ab, lehnte sich im Sessel zurück und sah die beiden nun wohlwollend an. „Ihr beide seid doch aus einem ganz speziellen Grund hier, nicht wahr?“ Ohne ihnen Zeit zum antworten zu geben, fuhr sie fort. „Ihr wollt eine Vision aufhalten. Und wie ihr vermutlich wisst, ist das nicht so einfach…“

Aaron schüttelte den Kopf.

„Man braucht entweder Hass oder Liebe, hat Nell gesagt…“

„Genau!“, rief die Seherin begeistert, sodass die beiden ein wenig zusammenzuckten. „Den grenzenlosen Hass oder die wahre Liebe. Das sind die Bedingungen.“

„Aber ist diese Theorie nicht stark umstritten…?“, fragte Annell zaghaft.

Der wütende Blick der Seherin traf sie mit voller Wucht.

Ich habe diese Theorie aufgestellt und sie belegt! Niemand wollte mir glauben! Aber ich weiß, dass ich Recht habe!“, schrie sie wütend und funkelte sie böse an. Dann atmete sie tief durch und beruhigte sich langsam wieder. Sie schaute ihre Gegenüber bedeutungsvoll an und streckte einen langen Finger in ihre Richtung aus. „Aber ich werde es beweisen. Mit eurer Hilfe.“ Die Seherin stützte die Ellenbogen auf dem niedrigen Tisch ab und musterte erst Annell und dann Aaron ganz genau. Ihre dunkelblauen Augen schienen jede Einzelheit in sich aufzunehmen. Dann wandte sie sich an Aaron und ihr Blick wurde ernst.

„Ich brauche jetzt eine absolut ehrliche Antwort von dir.“

Aaron nickte etwas unsicher. Er schien sich nicht ganz wohl in seiner Haut zu fühlen.

„Liebst du Annell wirklich? Aus tiefstem Herzen? Und mit allem, was dich ausmacht?“

Aaron schluckte. Er rang eine Zeit lang mit seinen Worten und warf nervöse Blicke um sich. Dann brachte er ein heiseres aber bestimmtes „Ja.“ heraus.

Er schaute unsicher zu Annell hinüber, die ein wenig verlegen auf ihrem Stuhl hockte und nicht recht wusste, was sie tun sollte. Ein so ehrliches Geständnis hatte sie nicht erwartet.

„Gut!“, reif Anita freudig aus. „Ich hoffe, du bist dir der Bedeutung deiner Gefühle bewusst. Wahre Liebe ist in diesen Zeiten äußerst schwer zu finden. Mögen oder begehren kann fast jeder. Doch sind es keine wahren Gefühle, kannst du die Vision nicht aufhalten.“

Aaron starrte bestürzt auf seine Hände. Er wagte es nicht, jemandem in die Augen zu sehen.

Anita ließ ihren Blick zurück zu Annell wandern. Ihre Augen funkelten neugierig und ein wenig belustigt. Sie nahm noch einen Schluck aus ihrer Teetasse.

„Eine Catrenua… wirklich interessant…“, murmelte sie vor sich hin.

Annell ließ sich ihre Verärgerung über diesen Begriff nicht anmerken und wahrte ihre undurchsichtige Miene.

Sie ignorierte auch die verstohlenen Seitenblicke, die Aaron ihr zuwarf. Sein Geständnis hatte sie überrascht, wenn sie auch nicht gänzlich davon überzeugt war, dass es stimmte. Es gab ihrer Meinung nach mehr als genug Menschen, die von wahrer Liebe sprachen und es vermutlich auch noch so meinten. Gestimmt hatten diese Aussagen ihrer Erfahrung nach allerdings nie. Sie starrte in ihre halbleere Tasse und schwieg.

Das Tagebuch - Ein Traum aus TinteWhere stories live. Discover now