Kapitel 22 - Unglaublich

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In der Pause traf sie Ilan an der Mauer. Dieses Mal war er alleine. Er umarmte sie kurz zur Begrüßung, ließ dann aber schnell wieder los. Er vermied so gut es ging, den Körperkontakt zu ihr. Das tat er in letzter Zeit immer – seit er ihr Tagebuch gelesen hatte.

Lena machte das traurig. Es war einfach nicht mehr so wie früher zwischen ihnen.

„Wie war Geschichte?“, fragte er.

„Ganz gut. Und bei dir?“

Er nickte nur zur Antwort und legte dann stirnrunzelnd den Kopf schief.

„Seit wann hast du da eine schwarze Strähne?“

Lena fasste sich unwillkürlich an die Stelle. Die Klammern saßen noch.

„Nein, da.“ Er griff nach ihren Haaren auf der anderen Seite und zog eine Strähne in ihr Sichtfeld. Sie war pechschwarz.

Lenas Augen weiteten sich vor Schreck. Oh Nein!

„Das… das ist…“ Sie sah sich nervös zu allen Seiten um. Überall standen Menschen, die unbeschwert ihre Pause genossen. Eindeutig zu viel Publikum.

Lena fasste Ilan am Handgelenk und zog ihn hinter eines der Gebäude, wo nicht so viel los war. Er sah verwundert aus, wehrte sich aber nicht. In der ruhigen Ecke angekommen, wandte sie sich wieder zu ihm um. Sie senkte die Stimme. „Irgendetwas Seltsames geht hier vor. Ich weiß nicht, was, aber es ist, als… als würde…“, sie atmete einmal tief durch und setzte noch einmal neu an.

„Immer wenn ich lüge, fängt meine Nase an zu kribbeln – wie bei Annell. Und als ich gestern nach der Schule nach hause gegangen bin, habe ich eine Blume gefunden, die ich noch nie gesehen habe. Oder besser gesagt: Es gibt sie gar nicht! Ich habe sie erfunden! Es gibt sie nur ein meinem Buch und plötzlich taucht sie hier auf. Solche Sachen passieren mir immer öfter. Und es wird langsam echt unheimlich…“

„Nell?“ Er atmete tief ein, „Was genau willst du mir damit sagen?“

Lena stockte. Würde Ilan ihr glauben? Sicher nicht. Sie glaubte es ja selber nicht. Es waren alles nur Spekulationen und eigentlich wusste sie gar nicht, was überhaupt los war.

„Ich bin mir nicht sicher. Ich weiß nicht, was gerade passiert, aber ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache. Dinge, die ich erfunden habe, tauchen plötzlich hier auf...“

Sie musste verrückt klingen. Wie eine Irre mit Verfolgungswahn.

Ilan runzelte die Stirn. Er klang zweifelnd. „Du meinst also, die Dinge aus deinem Tagebuch werden Wirklichkeit? Und als Beweis hast du eine Blume und deine kribbelnde Nase. Nell, du weißt schon, wie das klingt, oder? Und was hat das überhaupt damit zu tun, dass du dir die Haare färbst?“

„Ich habe sie mir nicht gefärbt. Heute Morgen war plötzlich eine schwarze Strähne zwischen den anderen. Ich weiß wirklich nicht, wie die dahin gekommen ist.“

„Bist du dir sicher? Vielleicht ein Streich deines Bruders oder so?“

Er glaubte ihr nicht. Warum sollte er auch! Sie würde sich ja selbst nicht glauben. Lena griff an die zweite schwarze Strähne.

„Die war heute Morgen noch nicht da. Ich weiß nicht, was hier passiert, Lan, aber du musst mir glauben…“ Jetzt war sie wirklich verzweifelt. Sie bildete sich das alles doch nicht nur ein!

„Nell“, er benutzte ihren neuen Kosenamen jetzt schon instinktiv. „Ich sage nicht, dass du verrückt bist. Aber vielleicht bist du über den Tod deiner Mutter doch noch nicht ganz hinweg? Kann es sein, dass du überfordert bist?“

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