Kapitel 50 - Die Wiese auf dem Hof

173 14 13
                                    

Nell verließ zusammen mit Niel den Kursraum, in dem sie zuvor eine Stunde Geschichte hatten absitzen müssen. Die Massen an Schülern drängelten sich an ihnen vorbei auf den Schulhof, schubsten und stolperten. Um einen möglichst großen Teil der Pause auf dem Hof verbringen zu können, nahmen sie keine Rücksicht auf Mitschüler, die ihnen in den Weg kamen und rannten, als ginge es um ihr Leben.

Nell starrte finster einem rücksichtslosen Siebtklässler hinterher, der sie beim hektischen Vorankommen unsanft angerempelt hatte. Beinahe hätte sie ihm etwas Fieses hinterher gerufen, doch sie konnte sich zurückhalten.

„Idiot“, murmelte Niel und stellte sich absichtlich einem weiteren von hinten Heranstürmenden in den Weg, um ihn daran zu hindern, vor ihnen durch die offene Tür zu treten.

Draußen war es angenehm warm. Die Sonne wärmte ihnen das Gesicht, sobald sie aus dem Gebäude traten. Der ungeduldige Schüler rannte sofort an ihnen vorbei und verschwand in einem Getümmel aus lärmenden Kindern.

Wenige Schritte weiter nahm Niel sie am Arm und zog sie zu einer freien Bank hinüber. So etwas gab es während den Pausen eher selten, daher nutzten die beiden diesen unerwarteten Luxus voll aus. Sie setzten sich nebeneinander auf den von der Sonne gewärmten Sitz und ließen ihre schweren Taschen daneben sinken.

Nell seufzte zufrieden und schloss die Augen. So könnte es ruhig häufiger sein. „Bist du mit der Aufgabe von eben klar gekommen?“, fragte sie.

„Naja, so in etwa… also eigentlich nicht wirklich.“, gestand Niel.

„Soll ich sie dir erklären?“

Niel schüttelte den Kopf, sodass seine blonden Haare flogen. Sie schimmerten golden in der warmen Sonne. „Nein, nicht jetzt.“ Er lehnte sich zurück und breitete die Arme auf der Lehne aus. Dabei berührte er sie leicht an der Schulter. Beinahe reflexartig ließ sie sich gegen seinen Arm sinken, was ihr ein breites Grinsen seinerseits einbrachte.

Nell liebte dieses Lächeln. Es bildete winzige Grübchen auf Niels Wangen und ließ seine hellen Augen leuchten. Sie hätte sich gänzlich darin verloren, wäre nicht genau in diesem Moment Dora vor ihnen aufgetaucht.

„Macht ihr mir auch noch Platz?“, fragte sie.

Ilan war ausnahmsweise einmal nicht an ihrer Seite. Dies lag daran, dass er erst gar nicht zur Schule gekommen war. Nell wusste nicht, warum, doch sie machte sich ein wenig Sorgen um ihn. Hoffentlich hatte er keine schlimme Krankheit. Und das, wo sie doch heute zu diesem Einzelhändler wollten.

„Klar“, antwortete Doras Bruder und sie rutschten ein wenig enger zusammen, um sie auch platznehmen zu lassen.

Niels Arm rutschte dabei auch noch zu ihrer anderen Schulter. Es war so angenehm, in seiner Nähe zu sein. Sie fühlte sich geborgen und sicher, zugleich erfüllte sie ein Hochgefühl, das ihr Herz schneller pochen ließ. Es war ähnlich wie das, was sie einst in Ilans Nähe empfunden hatte, jedoch nicht genau dasselbe. Sie konnte den Unterschied nicht benennen. Vermutlich lag es daran, dass Ilan ihr bester Freund war, den sie schon ewig kannte, während Niel erst vor einer Woche in ihr Leben getreten war. Es war dadurch irgendwie aufregender und prickelnder.

Bald musste sie sich eingestehen, dass sie für Niel tatsächlich Gefühle empfand. Gefühle, die über die gewöhnliche Freundschaft hinausgingen. Doch war es wirklich richtige Liebe?

Doras Stimme riss sie aus ihren Grübeleien. „Irgendwie fühle ich mich heute nicht so gut. Schon seit dem Aufstehen.“

Ihr Bruder klang besorgt. „Hast du Fieber? Soll ich dich nach hause fahren?“

Nell lugte an ihm vorbei, um einen Blick auf das Mädchen werfen zu können. Tatsächlich sah Dora ziemlich blass aus. Ihre Haare waren matt und trübe und wirkten dadurch dunkler als sonst. Ihre Stimme klang weniger kraftvoll.

Das Tagebuch - Ein Traum aus TinteWhere stories live. Discover now