Kapitel 57 - Alles, was zählte...

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Die Person, die sie schlussendlich rettete, war zugleich die, deren Hilfe Annell am aller wenigsten erwartet hatte. Gerade, als es schien, als wäre alles verloren, stieg ihr dieser Geruch in die Nase – und es war nur allzu klar, was das bedeutete.

„Linda?“ Sie rief, so laut sie konnte, auch wenn sie wusste, dass es keinen Unterschied machte. Die Seherin hörte sie auch so, oder besser gesagt, wusste, dass sie sie rief. Dennoch hielt sie sich versteckt, nur ihr unverkennbares Zeichen, die violette Blume, wucherte am Rand der Klippe zwischen einer Menge Unkraut.

Irgendwo hier musste sie sein. „Linda, ich weiß genau, dass du da bist! Heb dir deine blöden Späße für einen anderen Zeitpunkt auf und komm hier her!“

Fliel warf ihr verwirrte Blicke zu. Der Prinz hatte sich nach ihrer Offenbarung zurückgezogen und kein Wort mehr gesprochen. Annell wusste nicht, was ihm durch den Kopf ging, doch ihre Verwandtschaft schien ihn mehr zu beschäftigen, als sie geglaubt hatte. Ein wenig wunderte sie sich über sein Verhalten, doch es kam ihr auch zugute. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, darüber nachzudenken.

Mit größter Mühe hob sie Aarons regungslosen Körper an und schleifte ihn so weit wie möglich vom Rand der Klippe weg. Der Kampfeslärm lag ihr noch immer in den Ohren, doch er war nunmehr nebensächlich geworden. Das, was jetzt zählte, war, Aarons Leben zu retten. So, wie er es für sie getan hatte.

Dass sie immer noch am Leben war, konnte sie kaum fassen. Er hatte es tatsächlich geschafft, die Vision zu durchbrechen. Er hatte einen Weg gefunden, sie aufzuhalten! Annell war ihm unglaublich dankbar dafür.

Jetzt musste sie sich revangieren. Das Leben des Fährtenlesers stand auf Messers Schneide.

„Linda! Wenn du ihn nicht sofort rettest, sorge ich dafür, dass dir dein Leben nicht mehr lebenswert erscheint!“, rief sie erbost.

„Ist ja gut, ist ja gut…“ Endlich trat die junge Frau hinter einem Stein hervor und beobachtete das Schauspiel mit einer Mischung aus Amüsement und Neugier. Ein leichtes Lächeln huschte über ihre Lippen. „Kein Grund, so rumzuschreien.“ Sie lächelte listig und kam schnellen Schrittes auf sie zu. "Gehe ich Recht in der Annahme, dass du mir alles geben würdest, um sein Leben zu retten? Sogar dein eigenes...? Dann helfe ich natürlich gerne."

Obwohl Annell es nie zugegeben hätte, hatte die Seherin Recht. Sie würde alles dafür tun, einen Unschuldigen, der ihretwegen den Tod riskierte, zu retten. Wenn schon nicht aus Liebe, wie Aaron es getan hatte, dann aus Verantwortung und Würde.

Dass Linda so viel über sie wusste, behagte ihr jedoch ganz und gar nicht. Immerhin war das eine Schwäche, die sie nutzen konnte und bei Bedarf auch ohne zu zögern ausnutzen würde.

Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Sie war in Eile, denn Aarons Lebenskräfte schwanden. Ab einem bestimmten Punkt konnte selbst die Seherin es nicht mehr aufhalten.

Der plötzliche Hoffnungsschimmer ließ Annells Adrenalinspiegel sehr rasch sinken. Mit einem Mal spürte sie sämtliche Verletzungen wieder. Zehnfach stärker als zuvor.

Wie sie es geschafft hatte, in diesem Zustand einen ausgewachsenen Menschen mehrere Meter weit zu transportieren, war ihr schleierhaft. Kraftlos ließ sie sich neben den Schwarzhaarigen zu Boden sinken. Er schien beinahe leblos, doch seine Brust hob und senkte sich leicht. Ein sehr schwaches Lebenszeichen – aber immerhin ein sicheres.

Linda holte einige Kräuter aus einer Tasche und machte sich daran, sie mit einem Mörser zu zerdrücken. Sie wies Annell an, Aarons Hemd zu öffnen und diese tat sofort wie geheißen. Vorsichtig zog sie den Pfeil aus dem schwachen Körper. Der junge Mann keuchte schmerzerfüllt auf, doch darauf konnte sie im Moment keine Rücksicht nehmen. Mit ihrem Schwert durchtrennte sie den Stoff seiner Kleidung und legte damit die Wunde frei.

Es war grauenerregend. Der Pfeil war nur wenige Zentimeter neben dem Herzen eingeschlagen und hatte sicher einige Arterien durchtrennt. Das Blut floss nur so in Strömen aus der Schusswunde.

„Halt es auf!“, befahl Linda und Annell drückte einen Stofffetzen von Aarons Hemd darauf, um die Blutung zu stoppen. Es half nur geringfügig.

Nachdem Linda die Paste fertig angerührt hatte, trug sie sie großzügig auf der Wunde auf. Annell hatte Spitzwegerich zwischen den Kräutern erkannt. Es stoppte rasch und zuverlässig die Blutung. Beinahe hätte sie erleichtert aufgeatmet, als der rote Lebenssaft endlich nicht mehr aus dem Mann hervorquoll.

Als letztes zog Linda einen Druckverband aus ihrem Beutel. Mit Annells Hilfe band sie ihn fest um den Körper. Nachdem er verknotet war, erhob sie sich wieder.

„Er wird überleben.“, erklärte sie knapp.

Ohne es zu wollen, schluchzte Annell vor Glück auf. Ganz leise und nur ein Mal. Lindas Worte waren ihre Erlösung gewesen, denn sie wusste, dass sie stimmten. Immerhin war sie eine Seherin. Sie wusste, was geschehen würde.

Die junge Frau legte den Kopf schief. Kurz dachte sie nach, dann schien sie sich entschieden zu haben, was denn nun der Preis für ihre großzügige Tat war. „In naher Zukunft werde ich einen weiteren Gefallen von dir einfordern.“, eröffnete sie großspurig und ließ sich dann auf einen Stein in der Nähe sinken.

Annell nickte und besiegelte damit den Pakt. Nun schuldete sie der Seherin bereits zwei Gefälligkeiten. Blieb nur die Frage, was die Frau damit bezwecken wollte.

Doch es interessierte sie gar nicht. Aaron würde überleben. Das war alles, was in diesem Augenblick zählte.

Alles andere war egal.

* * * * * * * * * * *

Mit zitternden Fingern hob Nell den Stift vom Papier und sah auf.

Der Kampfeslärm war schon vor wenigen Minuten verebbt, doch sie hatte ganz sicher gehen wollen und weiter geschrieben. So lange, bis sicher feststand, dass Aaron überleben würde.

Jetzt stand sie auf und besah sich das Geschehen.

Aaron lag am Boden und rührte sich nicht. Niel stand daneben, totenbleich und fassungslos auf seine Hände starrend.

Sandora war verschwunden. Nur ihre violette Blume prangte neben Aarons Kopf, groß und grell in der Dunkelheit.

„Aaron!“ Sie konnte sich nicht mehr zurückhalten und stürmte auf ihn zu. Vorbei an Niel, der sich noch immer nicht rührte. Der süßliche Gestank der Blume störte sie kaum, während sie sich zu ihrem Freund hinunter beugte.

Mit fahrigen Fingern strich sie ihm die Haare aus der Stirn und betrachtete die rot angelaufenen Wundmale an seinem Hals, die Fliels Hände dort hinterlassen hatten. Sie musste schlucken. Es sah wirklich schlimm aus.

Er war ohnmächtig, doch er lebte noch. Sie hörte seinen rasselnden Atem und in diesem Moment war es das schönste Geräusch, das sie jemals vernommen hatte.

Vorsichtig schlug sie ihrem Freund auf die Wange, um ihn wach zu bekommen.

„Lan. Geht es dir gut? Sprich mit mir!“

Blinzelnd kam der Junge zu sich. Als er Nell erblickte lächelte er schwach. Er wollte etwas erwidern, doch seiner Kehle entrang sich nur ein gequältes Keuchen. Dann erlitt er einen schrecklichen Hustenanfall, der Nell die Nackenhaare aufstellte.

„Nein, sag lieber doch nichts. Zeig mir besser, wo es dir weh tut. Kannst du dich aufsetzen?“

Sie half ihm dabei und musste mitansehen, wie er sich bei jeder Bewegung quälte. Schaudernd besah sie sich seine vielen blauen Flecken und die noch stärkeren Blutergüsse. Doch Gott sei Dank war nichts Schlimmeres dabei.

Schluchzend fiel sie ihm um den Hals. „Ich bin so froh, dass du lebst! Das wäre beinahe echt schief gegangen. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn dir etwas zugestoßen wäre…“

Der Rest ihrer Worte erstickte in einem Weinkrampf, der ihren ganzen Körper schüttelte. Sie drückte sich fest an ihn. Heulte in sein T-Shirt. War so froh, dass er da war, lebendig und ohne bleibende Schäden. Seine Haare klebten in ihrem Gesicht und er roch nach Schweiß und Dreck, doch das war ihr gleich.

Aaron lebte. Das war alles, was in diesem Augenblick zählte.

Alles andere war egal.

Das Tagebuch - Ein Traum aus TinteWhere stories live. Discover now