Kapitel 46

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Kapitel 46 :




„Komm bitte schnell, sie .. sie will dich sehen. Es geht ihr nicht gut.“
Aidas schluchzen zerriss mein Herz in tausend Stücke, denn ich ahnte was gerade passierte.
„Ich bin in 5 Minuten da .. in .. 5 Minuten..“
Panisch ließ ich das Telefon fallen und schnappte mir Armends Schlüssel die auf dem Tisch lagen.
„Was willst du damit?“, wollte er wissen.
„Ich brauch dein Auto, ich fahr zu Mama.“, sagte ich hastig.
„Warte ich fahr dich.“
Armend stand auf aber ich winkte ihn zitternd zurück.
„Ich will alleine hin..“, flüsterte ich.
Er zuckte mit den Schultern und setzte sich dann wieder. Mein Herz hämmerte laut gegen meine Brust, während ich in meine Stiefel und meinen Mantel stieg...




Nicht nur mein Herz und meine Gedanken rasten gerade. Ich fuhr wie eine verrückte durch die Straßen und war überrascht, dass ich es heile bis zu unserem Haus geschafft hatte. Ich parkte den Wagen und rannte zur Haustür. Laut hämmerte ich dagegen und kurz darauf ließ Dardan mich rein. Er hatte gerötete Augen und automatisch nahm ich ihn kurz in den Arm.
„Es tut mir so leid Adelin.“, sagte er leise.
„Alles ist gut, alles ist gut ..“, sagte ich sanft und strich ihm über die Wange.
Er hatte mich tyranisiert als ich noch zu Hause war ja, aber er war trotz allem mein Bruder und auch ihn machte es kaputt mit seinen 15 Jahren, eine Menschen sterben zu sehen .. noch schlimmer die eigene Mutter. Ohne Umwege ging ich direkt in Mamas Zimmer. Mir fiel als erster der Arzt auf, der an Mamas Bett saß und ihren Puls maß. Ihre Augen waren geschlossen und für einen kurzen Moment dachte ich, dass es zu spät war. Im nächsten Augenblick öffnete Mama jedoch ihre Augen und unsere Blicke trafen sich. Es tat so unbeschreiblich weh .. so .. man kann sowas nicht erklären. Mich überkam eine Gänsehaut und ich schnappte keuchend nach Luft. Aida rüttelte an meinen Arm aber ich nahm sie nicht wahr. Ich sah nur Mama, wie sie da im Bett lag. Die Decke ging ihr bis zu den Hüften. Ihre Arme lagen auf dem Bett ausgebreitet. Dunkle Ringe umhüllten ihre Augen und ihre Wangen hatte ihren rosa Farbton schon lange verloren. Der Arzt stand auf und sagte irgendwas zu Papa, der ebenfalls im Zimmer stand, aber ich hörte ihn nicht. Wie in Trance machte ich kleine Schritte in Richtung Mama. Als sie mir auf einmal ihre Hand hinstreckte griff ich sofort nach ihr und setzte mich an den Rand des Bettes. Ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig, die Frage war für wie lange noch. Jeder Atemzug schien ihr so viel Kraft zu kosten. Ich konnte meine Gefühle nicht mehr zurückhalten und fing an zu weinen. Schluchzend küsste ich Mamas Hände.
„Lasst uns allein.“, sagte sie mühevoll an die anderen gerichtet.
Ohne meinen Tränen verschleierten Blick von ihr zu nehmen, spürte ich wie die anderen das Zimmer verließen. Wie es aussah hatte sie sich von ihnen schon verabschiedet. Der Gedanke daran, dass sie das gleiche nun auch mit mir machen wollte .. Alle Muskeln meines Körpers zogen sich schmerzhaft zusammen und es fühlte sich an, als habe mir soeben jemand mein Herz raus gerissen.
„Adelina .. qika jem (Meine Tochter.)“
„Mos me le vet Mam (Lass mich nicht allein Mama) bitte ..“, weinte ich leise.
Immer wieder küsste ich ihre Hände. Sie hob mein Kinn an und zog mein Gesicht zu sich. Dann drückte sie mir sachte einen Kuss auf die Stirn. Ihre Lippen verweilten eine ganze Weile dort, während meine Tränen auf ihr Gesicht tropften.
„Me ma ba hallall .. (Verzeih mir ..)“, flüsterte sie schwer atmend.
Ich kniff die Augen zusammen und krallte mich an ihren Pulli.
„Mam ..“, schluchzte ich.
„A ma ban hallall? (Verzeihst du mir?) Es .. tut mir leid, dass ich dir keine gute Mutter war..“
Sie redete so leise, dass ich sie nur mit Mühe verstand. Aber wir brauchten im Moment keine Worte um uns zu verständigen. Unser Augenkontakt reichte vollkommen aus .. Mit zitternden Fingern nahm ich ihre Hand und küsste ihren Handrücken.
„Hallall t'koft Mam .. 1000 here hallall t'koft. (1000 mal sei dir Verziehen.)“, gab ich von mir.
Sie lächelte .. sie .. lächelte mich mit gefüllten Augen an und die Tränen liefen ihr die Schläfen herab. Mein Inneres vibrierte und Gänsehaut überfiel meinen ganzen Körper.
„Shpirti Mames .. (Mamas Liebling ..)“, sagte sie leise.
Mit der wenigen Energie, die ich noch besaß, legte ich mich vorsichtig neben ihr ins Bett und umarmte sie fest.
„Te dua Mam. (Ich liebe dich Mama.)“, flüsterte ich.
Ich schloss meine Augen, legte meinen Kopf auf ihre Brust und lauschte den unregelmäßigen Schlägen ihres Herzens. Ich weiss nicht .. ich weiss nicht mehr wie lange ich so da lag. Unsere Hände waren ineinander verschränkt, doch plötzlich ließ der leichte Druck, den ich bislang gespürt hatte nach. Ich richtete mich auf und rüttelte an Mama.
„Mam .. Mam!“, flüsterte ich panisch.
Ihre Augen hatte sie geschlossen, ein Ausdruck von Zufriedenheit lag auf ihrem Gesicht. Meine Lunge brannte wie Feuer und meine Kehle war wie zugeschnürt! Jede Faser meines Körpers schien vor Schmerzen zu schreien und ich hatte das Gefühl, dass mir der Sauerstoff ausging.
„Mam! Bitte ..“, schrie ich weinend.
Kraftlos rüttelte ich an ihren leblosen Körper und gleich darauf wurde die Tür aufgerissen. Die anderen standen im Zimmer und ich hörte wie auch sie weinten. Aida, Egzon und Dardan.
„Mam ..“, schluchzte ich und nahm ihr Gesicht in meine Hände.
Ich küsste sie, ihre Wangen, ihre Augen, ihre Stirn. Immer und immer wieder!
„Adelina boll ma. (Adelina genug.)“, hörte ich jemanden sagen und spürte eine Hand, die meinen Oberarm umschloss.
Ich hob meinen Kopf und sah in Papas Augen. Purer Hass stieg in mir auf.
„Fass mich nicht an!“, zischte ich weinend.
Er ließ mich los und machte einen Schritt zurück. Ausdruckslos starrte er mich an. Wenigstens jetzt sollte er mich in Ruhe lassen. Ich ließ meiner Trauer freien Lauf, ich wollte es nicht wahr haben. Ich konnte es nicht glauben, dass Mama nie mehr ihre Augen öffnen würde. Mich nie mehr anlächeln würde. Mich nie mehr in den Arm nehmen würde. Mein Verstand wollte das nicht realisieren. Mir wurde schwarz vor Augen, müde ließ ich meinen Kopf auf Mamas Brust nieder. Es war, als sei ein Teil von mir gegangen. Ein Teil, der nun ein großes Loch in meinem Herzen hinterließ. Mehrere Minuten saß ich so da und schluchzte vor mich hin. Mamas Oberteil war schon ganz durchnässt von meinen Tränen. Als ich eine Hand auf meinen Rücken spürte, hob ich schniefend meinen Kopf.
„Adelina moter (Schwester), hör bitte auf ..“, flüsterte Aida weinend.
Egzon kam nun ebenfalls dazu und nahm meine Hand. Sanft strich er mit seinem Daumen über meinen Handrücken und drückte mir einen Kuss auf den Kopf.
„Nur noch zwei Minuten ..“, bettelte ich weinend.
Egzon wischte sich die Tränen weg und nickte dann leicht. Zitternd nahm ich Mamas Gesicht in die Hände und drückte einen langen Kuss auf ihre Stirn. Ein letztes mal sog ich ihren Duft ein und schon wieder verfärbte sich alles vor mir schwarz ..





Als ich meine Augen wieder öffnete wusste ich für einen Moment nicht wo ich war. Blinzelnd rappelte ich mich auf und sah mich um. Ich lag in meinem alten Zimmer. Allein. Ich konnte gerade nicht klar denken, verwirrt griff ich mir an den Kopf, der vor schmerzen pochte. Die Tür war nur angelehnt und von unten hörte ich weinende Stimmen, die mich sofort wieder daran erinnerten, was passiert war und wieso ich hier lag. Schnell stand ich auf, aber musste mich schwankend an der Wand festhalten, denn vor mir drehte sich alles. Den ganzen Tag über hatte ich nur zwei Kaffees gehabt, kein Wunder also. Ich musste lange hier gelegen haben, denn draussen war es schon dunkel. Tränen stiegen wieder in mir auf und liefen mir die Wangen herab. Ich fühlte mich, als sei ich von einem Lkw überrollt worden. Vorsichtig tapste ich die Treppen nach unten. Das Wohnzimmer war gefüllt. Familie, Freunde, Nachbarn. Mein Herz blieb stehen, ich wollte da nicht rein.
„Adelina.“
Erschrocken fuhr ich hoch und sah Dardan im Flur stehen. Er hatte gerötete Augen.
„Dardan ..“, flüsterte ich weinend.
Er stand so hilflos da .. so allein .. so verletzt. Genauso wie ich. Automatisch streckte ich ihm meine Hand hin, nach der er ohne zu zögern griff. Ich nahm ihn in den Arm und sprach leise auf ihn ein.
„Wir müssen stark sein. Mama hätte es so gewollt. Okay?“
Meine Lippe bebte und meine Stimme war nur mehr ein leises Flüstern. Ich hob Dardans Kinn an, wischte ihm die Tränen weg und küsste ihn auf die Wange.
„Falem. (Verzeih mir.)“, schluchzte er.
„Ich bin dir nicht böse Dardan.“
Das war ich wirklich nicht. Wichtig war, dass er seinen Fehler eingesehen hatte. Das mit den Drogen hatte ich noch im Hinterkopf, aber daran wollte ich grade nicht denken. Die Haustür öffnete sich. Papa und Egzon kamen rein. Ich senkte meinen Blick. Den Anblick dieses Mannes konnte ich kaum noch ertragen. Er lief wortlos an uns vorbei, während Egzon mich von der Seite umarmte und mir einen langen Kuss auf die Schläfe drückte.
„Macht euch bereit. Unser Flieger geht um 3 Uhr Morgens.“, sagte er.
Meine Knie fingen wieder an zu zittern und erneut flossen die Tränen. Meine Augen brannten schon und waren geschwollen. Innerlich bereitete ich mich schon auf die schlimmen Tage im Kosovo vor. Woher sollten ich wissen, dass etwas passieren würde, mit dem ich niemals gerechnet hätte?

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