22 * Probleme der Schwerkraft

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Geschockt stand Isaac im Türrahmen. Er hätte dieses wahnsinnige Mädchen nicht alleine lassen sollen. Erst versuchte sie, ihn zu beeindrucken und dann vergriff sie sich noch an seinen ganzen Stolz. Nicht einmal Mick war so aufdringlich, obwohl er Isaacs Leben binnen weniger Wochen komplett auf den Kopf gestellt hatte.
Maike stand vor dem ordentlich aufgeräumten Schreibtisch des Blonden und war dabei, seine Buddelschiffe aus dem Regal darüber durcheinander zu bringen. Da das Licht das Zimmer nur spärlich erhellte, konnte Isaac nicht sehen, dass sie ein außergewöhnlich kompliziertes Flaschenschiff bereits in der Hand hielt.

Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er pure Wut. Normalerweise vermischte sich dieses Gefühl mit Angst oder Unsicherheit, meist mit beidem, doch an diesem Mittwochabend spürte er nichts als reine Wut. Wut auf seine Eltern, da sie so verständnislos waren, Wut auf die Offermanns, weil sie so laut waren, Wut auf Maike, weil sie ohne jegliche Rücksicht auf Verluste seine Ruhe störte und sich dann die Frechheit erlaubte, seine Kunst zu zerstören.
Ohne sich seiner Tat bewusst zu sein, warf Isaac den Apfel, welchen er sich geholt hatte und schrie dabei: "Fass das nicht an!"
Erstaunlicherweise traf das Obst. Maike blickte überrascht auf, als sie erst Isaacs Stimme hörte und dann den Apfel an ihrer Schulter spürte. Der Blonde hatte zwar mit nicht viel Kraft geworfen, dennoch prallte der Apfel unsanft an Maike ab und viel dumpf auf den Boden. Das Mädchen mit den langen Haare ließ, teils aus Schreck, teils aus Schmerz, das Buddelschiffchen aus ihrer Hand fallen. Isaac sah das Glas im Lichtschein spiegeln, konnte jedoch nicht schnell reagieren und so zerbrach ein wertvoller Teil seiner Sammlung mit einem lauten Klirren.
Der Blonde war den Tränen nahe. Alles was dieses Mädchen tat, war zerstören. Seine Ruhe, sein Geheimnis und jetzt auch noch ein Flaschenschiff. Maike sah, wie Isaac reglos auf die Glasscherben starrte. Obwohl ihre Schulter pochte, der Apfel hatte sie schließlich unerwartet getroffen, empfand sie viel Mitleid für den zierlichen Jungen. "Isaac- Ich", setzte sie an. Weiter kam sie jedoch nicht, weil der Angesprochene wortlos in sich zusammensackte und weinte. Er weinte stark und alles was Maike tat, war tatenlos daneben stehen und es geschehen lassen.

Das Schluchzen und der vorherige Krach leiteten dazu, dass die Mütter der beiden aus dem Wohnzimmer angelaufen kamen, um ehrlich besorgt nach ihren Kindern zu sehen.
Als Lona in der Küche stand und sah, wie ihr Sohn weined auf dem Boden saß, gleich neben Glasscherben und den gebrochenen Teilen von einem Miniaturschiff, wusste sie schon, was passiert war. Nur der Apfel, der ein Stückchen neben Maike lag, machte keinen Sinn.
Maikes Gesicht zeigte pures Entsetzen. Sie hatte mit keiner Silbe geahnt, wie empfindlich Isaac war. Eigentlich hätte sie weinen müssen, schließlich hatte er sie mit Obst beworfen. Ihre Mutter sah sie verständnislos an. “Was ist passiert?“, erklang dann auch schon ihre Stimme. Ihre Tochter zuckte nur mit den Schultern und schüttelte den Kopf. “Ich hab mir eins von den Schiffchen angesehen, weil Isaac weg war und dann wurde ich von einem Apfel getroffen. Dadurch, dass ich mich erschreckt habe, ist mir das Schiff aus der Hand gefallen und jetzt ist es kaputt“, beschrieb sie die Situation.
Lona hatte geduldig zu gehört und verstand. Sie trat einen Schritt näher und kniete sich zu Isaac, welcher noch immer leise schluchzte. Mit einer Hand strich sie ihm über die Schulter, die andere über die glatten Haare. “Na na, mein Schatz, Mama ist da. Du musst jetzt nicht mehr weinen, denk doch nur an Mick. Mick würde dich jetzt auch trösten und Mick wäre bestimmt stolz, wenn du mich mal anguckst“, flüsterte sie mit beruhigender Stimme. Tatsächlich schien die Erwähnung des Namens von seinem Freund, eine Wirkung zu zeigen. Der Blonde schniefte noch einmal laut und hob dann den Kopf, um seine Mutter anzusehen.

Unter normalen Umständen wäre Isaac jetzt verwundert, warum Lona gerade Mick erwähnte, doch in diesem Moment zählte nur, dass er nun jemanden hatte, der gute Gedanke brachte. Lona lächelte müde. Es war lange her, dass Isaac so panisch war, da hatte sie einen Moment gebraucht, um etwas Beruhigendes zu finden. Ihr Sohn zitterte nicht mehr, jedoch liefen noch immer Tränen über sein Gesicht. Schwungvoll stand sie auf und musterte ihn. “Schatz, wir gehen mal kurz ins Bad und dann sieht die Welt schöner aus, richtig?“, sie wartete auf keine Antwort, sondern hob den zierlichen Jungen kurzerhand hoch, indem sie ihm unter die Knie und Arme griff. Instinktiv klammerte sich der Blonde an seiner Mutter fest. Er lächelte sogar ein wenig, denn es erinnerte ihn an die Zeit, als er noch ein Kind war und sie ihn regelmäßig retten mussten. Maike und ihre Mutter waren für beide vergessen.
Lona hatte, obwohl Isaac nicht schwer war, Mühe voran zu kommen. Sie spürte, wie der Kleine sein Gesicht in ihre Halsbeuge vergrub und versuchte ruhig zu atmen. So torkelten sie sehr langsam auf das Bad zu. Jedoch konnten sie es nicht sofort erreichen, denn Isaacs Vater stand auf der Treppe und beobachtete das Geschehen mit Misstrauen.
“Was soll das?“, fragte er harsch. Lona seufzte. So mit der Zeit wurde Isaac doch unhandlich. “Musst du Maike fragen. Wir“, sie nickte auf Isaacs Körper, “haben einen kleinen Notfall.“
“Pah, der hat doch nur wieder geheult“, wurde Heinrich ausfällig.
Seine Frau schluckte. Er lag zwar nicht falsch mit seiner Aussage, allerdings missfiel ihr seine Art über ihren Sohn zu reden. Deshalb log sie: “Nein, ihm ist eins seiner Buddelschiffe auf den Fuß gefallen und deshalb wollen wir ins Bad, den Fuß kühlen.“
Isaac hörte, wie sie ihn verteidigte und drückte sich noch stärker an sie.
Heinrich sah sie beide abschätzig und stieß einen abfälligen Laut aus. “Und diese Lächerlichkeit sehen unsere Geschäftspartner“, murmelte er und lief in Richtung Küche.

Als Lona ihren Sohn keine Minute später auf dem Badewannenrand absetzte, hatte dieser die Hände vor seinem Gesicht. Er wollte seine Mutter nicht ansehen, zu sehr schämte er sich. Doch die blonde Frau ließ nicht locker und kniete sich vor ihn.
“Hey, Schatz, alles ist gut. Hör nicht auf deinen Vater, du hast nichts falsch gemacht“, redete sie beruhigend auf ihn ein. Der Kleine reagierte jedoch nicht. Sie hob ihre Hand, um ihm über den Rücken zu streichen. “Komm Isaac, sieh mich bitte an“, bat sie, “was ist passiert?“
Er schüttelte den Kopf. Tränen fingen erneut an, über sein Gesicht zu laufen. Seine Hände hielt er schützend davor. So langsam wurde Lona ungeduldig, ihr war zwar bewusst, dass sie jetzt die Fassung bewahren sollte, aber Isaac war doch kein Kleinkind mehr. Vorsichtig, aber bestimmt, schob sie seine Hände weg.
“Jetzt sag schon, wie ist das passiert?“

Genau die selbe Frage stellte Astrid Offermann auch ihrem Kind. Maike stand mit verschränkten Armen in Isaacs Zimmer, während ihre Mutter auf der anderen Seite der Tür in der Küche stand. “Hab ich dir doch erzählt! Wir haben uns unterhalten, dann wollte er sich essen holen und ich hab mir in der Zeit diese dummen ranzigen Schiffchen angeguckt, bis ich plötzlich von einem Apfel abgeworfen wurde. Denn, was ja wohl verständlich ist, ich habe mich erschreckt und das Schiff ist mir aus der Hand gefallen“, versuchte das braunhaarige Mädchen erneut ihrer Mutter die Situation zu schildern. “Maike, lüg mich nicht an! Hast du das Glasdings absichtlich fallen gelassen?“
“Nein! Für wen hälst du mich? Ich hab es mir nur genauer angesehen. Ich konnte doch nicht ahnen, dass er gleich wie ein Dreijähriger austickt!“
“Maike, wir haben dir sehr wohl gesagt, dass er etwas speziell ist und du vorsichtig sein musst.“
Der Jugendlichen klappte der Mund auf. Sie verstand nicht, was sie falsch gemacht hatte.
“Ihr habt mir gesagt, dass er introvertiert ist, aber nicht, dass er ein gottverdammtes Sensibelchen ist, welches bei jeder Kleinigkeit losheult“, Astrid wollte etwas erwidern, doch Maike ließ sie nicht zu Wort kommen, “und ihr habt mir gesagt, dass ich mich an ihn ranmachen soll, aber auch da habt ihr leider vergessen, dass er in einer Beziehung ist!“
Maike schrie fast vor Wut, jedoch zügelte sie ihre Lautstärke, bevor Heinrich sie hören konnte.

Frau Offermann wich alle Farbe aus dem Gesicht. Der Kleine hatte eine Freundin, dass war auch für sie neu.
“Mäuschen jetzt beruhige dich. Das wusste ich nicht. Dein Vater und ich wussten nicht, dass er eine Freundin hat. Davon hatten Lona und Heinrich nichts erwähnt“, flüsterte sie ihrer Tochter zu. “Tja, das hilft mir jetzt auch nicht weiter“, die roten Flecken auf Maikes Hals gingen zurück und auch Astrid überlegte.“Und wer ist überhaupt Mick? Etwa sein Psychiater?“, redete Maike weiter. “Ach, bestimmt der Therapeut oder so, aber komm, wir räumen die Scherben weg und dann entschuldigst du dich“, antwortete ihre Mutter und Maike grunzte widerwillig, tat aber das, was ihr gesagt wurde.

Nach einer Weile kamen auch Lona und Isaac zurück. Der Kleine lief mit hängenden Kopf und gekrümmten Rücken hinter seiner Mutter. Ihm war sein Anfall vor Maike und den Müttern sehr peinlich. Er hatte nur zugestimmt zurück zu gehen, weil Lona ihm versprochen hatte, ein neues Bauset für das kaputte Schiff zu kaufen. Nachdem beide Jugendlichen sich eher weniger und sehr genuschelt entschuldigt hatten, wurde das Abendessen gemacht und sehr still gegessen. Nur Heinrich und Maikes Vater waren in ein Gespräch vertieft. Danach ging das Schweigen weiter, bis Isaac mit Maike in sein Zimmer geschickt wurde.

Mit dem Rücken zu ihr gedreht lag der Kleine eingerollt in seiner Decke auf dem Gästebett und versuchte zu schlafen. Kläglicherweise schaffte er es nicht, weil das ständige Rascheln hinter ihm nicht aufhören wollte. Irgendwann knarzte es kurz und das dauerhafte Wühlen hörte auf. “Du Isaac, es tut mir wirklich leid“, säuselte Maike mit zuckersüßer Stimme. Der Blonde wollte nur ungern eine neue Konversation anfangen, also atmete er lautstark aus. Unbeeindruckt von seiner Reaktion sprach sie weiter. “Hätte ich gewusst, dass du nicht single bist, dann hätte ich gar nicht davon angefangen, aber vielleicht kannst du mir ja sagen, wie es bei dir war, als du ein Mädchen geküsst hast. War das auch so atemberaubend?“, Isaac war von Müdigkeit vollkommen vernebelt und so erwiderte er: “Ich habe noch nie ein Mädchen geküsst.“
Er stand kurz davor einzuschlafen, wurde jedoch erneut von Maike gestört. “Aber du bist doch in einer Beziehung, hab ihr euch etwa noch nicht geküsst?“
“Doch, doch natürlich“, er gähnte, “wir haben uns schon geküsst.“
Erst nachdem er dies gesagt hat, wurde ihm schlagartig klar, was er damit zugegeben hatte. Maike stockte und riss die Augen weit auf.
“Isaac“, flüsterte sie, “sag mal, bist du mit einem Jungen zusammen?“

Mitternachtsaffäre   (boyxboy)Where stories live. Discover now