10 * Leere Gesichter

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Völlig verschlafen und mit schrecklichen Kopfschmerzen schleppte Mick sich am Sonntag zum Frühstück. Seine Mutter trug ihren geliebten Jogginganzug und versuchte gerade die Zwillinge dazu zu bewegen, das Toast zu essen und nicht der eigenen Schwester auf den Kopf zu hauen. Er trug noch immer den Pullover von gestern und versank fast in diesem. "Na Baby, anstrengende Nacht?", die hagere Frau wackelte anzüglich mit ihren Augenbrauen. Ihr Sohn rollte nur mit den Augen und zog seine Kapuze tief in sein Gesicht, dann murmelte er in den Stoff: "Anstrengend auf jeden Fall, aber nicht so wie du denkst."
"Wieso? Was ist denn passiert?" Mick rutschte weiter in den Pulli. Er schnalzte mit der Zunge und blickte bedrückt auf den Tisch. "Nun", sagte er gedehnt, "ich habe ihn geküsst, wir lagen dann im Bett und haben uns geküsst und dann war er überfordert." Sowohl seine Mutter, als auch seine Schwestern sahen ihn ungläubig an. Sogar das Käsetoast war unwichtigt geworden. "Mama hat Micki schon einen Freund?", fragte Amy neugierig. "Ich weiß nicht, vielleicht sagt er uns das noch."
Der Junge seufzte. "Nein, kein Freund, was nicht heißt, dass ich es nicht versucht habe. Wahrscheinlich ging ihm alles zu schnell... hätte ich warten sollen? Ich dachte nur, dass der Moment passen würde, schließlich hat er sich beim Küssen nicht beschwert", überlegte er laut. Die Mädchen verloren das Interesse an dem Thema und nahmen den Toast-Streit wieder auf. "Ach Micki, weißt du, vielleicht war ihm das alles zu viel und - Janis iss das Brot - ähm, wo war ich? Ja, also ich denke, du solltest einfach warten, bis er sich meldet, zur Not seht ihr euch morgen." Mick nickte, er konnte den Gedankengang seiner Mutter verstehen, dennoch wollte er zurück zu Isaac und den Vorfall schnellstens klären. "Hör mal Baby, mach dich jetzt nicht verrückt, der Kleine kommt schon zu dir, hat er dir eventuell schon geschrieben oder so?"
"Keine Ahnung hab noch nicht nach geschaut."
"Dann mach das gleich mal, aber vorher isst du auch etwas und gehst duschen, du siehst nämlich echt nicht gut aus."
"Na danke Mama!"

Wenn auch etwas beleidigt, befolgte Mick den Rat seiner Mutter. Als er in den Spiegel blickte, musste er ihr ja doch recht geben. Er sah schlecht aus. Die schwarzen Locken standen in alle Richtungen ab und er hatte dunkle Schatten unter den Augen. Seine Haut war matt und der sonst so fröhliche Gesichtsausdruck war überdeckt von einer Mine, wie sie sonst nur Kranke hatten. Nach einem vergeblichen Versuch die Haare zu bändigen, griff der Große kurzerhand zu einem Haargummi und knotete seine Locken zu einem Dutt. Nicht schön, aber selten, dachte er. Er hatte wieder den Pullover an, jedoch eine frische Jogginghose. Seine Mutter hatte ihn in sein Zimmer geschickt, eigentlich an sein Handy, dieses hing aber am Strom, so war der Junge allein in dem winzigen Raum. Als das Display aufleuchtete und Mick das Handy entsperren konnte, sah er, dass Isaac ihn dreimal angerufen und ihm siebzehn Nachrichten geschickt hatte. 
Er schüttelte den Kopf, der Blonde hatte nicht einmal auf die Mailbox gesprochen und die Texte ähnelt sich auch alle. Wenn es ihm wichtig ist, kann er es mir auch persönlich sagen, dachte Mick. Isaac bat ihn um Zeit und Verständnis mit der Begründung, das alles sei so neu für ihn und überhaupt habe er noch keine Erfahrung mit so etwas. Mick lachte abfällig. Nicht über Isaac, sondern über sich selbst. Der Kleine war ja nun nicht der erste Junge, der seine Gefühle durcheinander brachte, jedoch war es bei ihm am schlimmsten. Aber ausgerechnet dieser hatte eine Persönlichkeitsstörung, die es ihm nicht erlaubte, Entscheidungen in kurzer Zeit zu treffen.
Aus reiner Freundlichkeit tippte Mick: 'Ja klar, ist okay, sehen uns ja morgen und die ganze Woche, da kannst du in Ruhe überlegen.'
Pampig drückte er auf 'Senden', ließ das Telefon zurück auf den Nachttisch sinken und gesellte sich dann zu seiner Familie.

Am Montagmorgen saß Isaac zitternd im Bus. Seit dem vorherigen Tag hatte er nichts von Mick gehört. Er hatte keine Vorstellung davon, was ihn erwarten würde. Deshalb wollte er, dass der Sonntag nie endet. Lieber mit der Ungewissheit leben, als einer unkontrollierbaren Realität. Der Blonde hatte vehement versucht seine Eltern zu überzeugen, dass er in seinem Zustand auf gar keinen Fall zur Schule konnte. Diese meinten jedoch nur, er solle einfach eine Tablette mehr nehmen, er beruhige sich dann schon. Sie wussten schließlich nicht, dass ihr Sohn die Medikamente regelmäßig in der Toilette runterspülte.
Aber sie wussten auch nicht, dass er schwul war.
Oder bi, so ganz sicher war er sich da nicht mal selbst, vielleicht schwärmte er einfach nur für Mick, weil dieser mit seinen langen Haaren doch eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Mädchen hatte. Isaac seufzte. Wem wollte er etwas vormachen? Mick besaß überhaupt keine Ähnlichkeit mit Frauen. Selbst seine Frisur ließ ihn unglaublich männlich wirken und auch sehr anziehend auf Isaac.
"Sag mal, mein Herz'schel, hast'e schlecht geträumt, oder warum guckst'e so traurig?", wurde sein Gedankengang unterbrochen. Eine drollige alte Dame hatte ihn angesprochen. Isaacs Puls schnellte nach oben und seine Hände fingen an zu schwitzen. Mick rief ein ähnliches Phänomen hervor, nur, dass bei ihm noch eine gewisse Freude mitschwang. Die Dame ließ sich nicht beirren. Ihre weißen Löckchen umrahmten das faltige Gesicht. "Also ick, weeß ja nich', was mit dir los is', aber ick bin mi' sicher, dass des nich' mit 'nem Bonbon gelöst werden kann", trällerte sie vor sich hin und zog aus der Tasche ihres braunen Mantels in Stanniolpapier eingewickelte Süßigkeiten. Wortlos reichte sie ein Stück an Isaac. "Da... Danke", stotterte er. "Kein Problem, mein Herz'schel, für Burschen wie dich habe ick immer was dabei", sie zog das Papier von einen der Bonbons. "Eigentlich darf ick die gar nich' esse', aber ick glaube, ick mach' da mal 'ne Ausnahme", mit diesen Worten verschwand der Zuckerklumpen in ihrem schlecht geschminkten Mund. Beiläufig ließ Isaac das Bonbon in seine Jackentasche sinken. Fröhlich schmatzend sah die Frau den Jungen an. "Also, Kleener, was hat sie angestellt?"
"Sie? Welche sie?", verdutzt sah die Rentnerin ihren Gegenüber an. "Na dein Mädchen. Was hat sie gemacht, dass du jetzt so ausschaust?" Verstehend nickte Isaac. "Ähm, ich - nun, es ist so-"
"Sie hat dich verlasse'!"
"Was nein, nein. Keine sie, er-"
"Ach du bist dieses, ach Mensch, wie heeßte des nochma'?"
"Schwul?"
"Ja jenau, schwul. Weeßt'e eener meener Enkel, der is' och schwul. Der hat mich gestern angerufe' un' mir des gesagt, ne. Un' der war janz ofgelöst, denn der hat so 'nen kleenen Freund un' eigentlich wollen se zusamme' seen, aber der Kleene hat sich net ausgekäst un' da gab's da so janz großes Drama, ne janz groß. Ick hab' nur zu ihm jesagt, Herz'schel, geh zu deinem Junge' un' hol ihn dir, denn so 'n Goldstück, den findest'e selten", die Dame plapperte so unbekümmert vor sich hin, dass sie nicht merkte, wie Isaac aufstand und sich Richtung Tür bewegte, er musste gleich aussteigen. "Na huch, wo isser denn hin?", die alte Frau blickte umher und erkannte die schmale Gestalt des jungen Mannes. "Da biste Herz'schel, na ja, los, mach dich an deinen Jungen und lass ihn nich' wieder gehen!" Bei diesen Worten musste Isaac tatsächlich lächeln, doch in diesem Moment stoppte der Bus und er stolperte ins Kalte hinaus.

Auf dem Schulhof bildeten sich kleine Grüppchen von Freunden, nur vereinzelt standen Schüler ohne Begleiter herum. Isaac war einer von ihnen. Er konnte Mick nirgends entdecken, dabei wollte er unbedingt mit ihm reden. Auch wenn er nicht genau wusste, was er sagen sollte.
Kurz bevor die erste Stunde begann, schneite Mick in das Klassenzimmer. Wie immer sah er umwerfend aus, zumindest für Isaac. Die anderen Jugendlichen schienen den Großen gar nicht zu bemerken. Er ließ sich auf seinem Platz vor dem Kleinen nieder und würdigte ihn keines Blickes. Die Kopfhörer, die er auf hatte, hinderten Isaac daran Mick anzusprechen. Doch auch ohne mit ihm zu reden, bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Die schwarzen Locken waren unordentlich in einem Zopf gebunden, außerdem trug noch immer den Pullover vom Wochenende und seine Körperhaltung war geknickt.
Als es klingelte, drehte Mick sich um, damit er die Kopfhörer verstauen konnte, dabei erhaschte Isaac einen flüchtigen Blick auf dessen Gesicht.
Seine Haut war blass, geradezu fahl. Niemand war besonders schön unter dem grellen Licht der Neonröhre, aber der Schwarzhaarige sah regelrecht schlecht aus.
Isaac spürte einen Kloß im Hals.
Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er wollte Mick nicht so sehen, er wollte nicht verantwortlich für seinen Zustand sein und dennoch wusste er, dass es seine Schuld war.
"Mick...", krächzte Isaac kaum hörbar. Der Große reagierte und blickte ihn fragend an. "Isaac? Was ist?" Doch bevor der Blonde etwas erwidern konnte, hatte Mick sich wieder umgedreht und lustlos dem Lehrer zu gehört.

Den ganzen Tag über ignorierte der Schwarzhaarige Isaac, obwohl dieser mehrfach versuchte, ein Gespräch mit ihm anzufangen, wenn auch mit vielem Gestottere und Abbrüchen, denn Isaac wusste nicht, was er hätte sagen sollen. Mick wusste, dass das die pure Hölle für den Kleinen bedeutete. Schließlich wollte er immer alles unter Kontrolle haben, immer musste er so perfekt wie möglich sein und Mick widersetzte sich diesem Verlangen gänzlich. Jedoch fühlte er sich verabscheuungswürdig und würde am liebsten zu Isaac rennen und alles unter den Teppich kehren, aber irgendwas in seinem Inneren zwang ihn dazu, es nicht zu tun. Einmal sollte Isaac die Initiative ergreifen, denn Mick brauchte die Versicherung, dass der Blonde ihn wirklich mochte.

So ließ er Isaac allein und wartete mit großem Unbehagen.

Mitternachtsaffäre   (boyxboy)Where stories live. Discover now