2 * Zum Mitnehmen, bitte!

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Es war ein herrlicher Tag. Die Blätter an den Bäumen strahlten in den vielseitigsten Rottönen. Vereinzelt gab ein Vogel einen schüchternen Laut von sich und die Sonne erwärmte die kühle Luft. Es war ein heller Herbsttag. Die Straßen waren von Menschen gefüllt, sie wollten die wenigen angenehmen Tage vor dem grauen Winter nutzen. Für Isaac unverständlich. Er verstand nicht, was die Menschen hinderte an allen Tagen produktiv und ehrgeizig zu sein.
Die Mittagspause war gerade vorbei, der Blonde saß hinten auf seinem Platz und wartete auf den Start des Unterrichts. Von seinem 'Anfall' war nicht die geringste Spur zu sehen. Er starrte vertieft auf seine Notizen, wollte sich das letzte Thema nochmal ins Gedächtnis rufen. Doch er konnte seine Gedanken nicht fokussieren. Sie schwirrten immer um den Jungen eine Reihe vor ihm, der mit den langen schwarzen Haaren und dem muskulösen Rücken.

Isaac merkte nicht mit welchem intensiven Blick er Mick gemustert hatte, er taute erst aus seiner Starre, als der Große vor ihm sich schwungvoll umdrehte. Er schaute Isaac aus gutmütigen Augen und mit einem glücklichen Lächeln an. "Na Newton, freust du dich schon auf, ähm, den sehr interessanten Stoff den wir gerade behandeln?", ertönte die tiefe Stimme des jungen Mannes. Da der Angesprochene von Natur aus eher ruhig war, erwartete der Braunäugige gar keine Antwort. Sein Gesicht hatte etwas Ehrliches an sich und Isaac wollte dieses Gesicht nicht enttäuschen, rang mit seinem Innersten, um mit Mick zu sprechen. Er schluckte schwer, der Ausdruck seines Gegenübers hatte sich nicht verändert, dennoch fing das fröhliche Lächeln an zu zittern, mal wieder erhielt er keine Antwort von dem schüchternen Jungen aus der letzten Reihe. Dabei bemühte er sich wirklich diesen kennen zu lernen.
Trotz seiner porzellanähnlichen Haut, den blonden Haaren und stechenden blauen Augen umwarb Isaac etwas Düsteres. Seine Ausstrahlung passte nicht zu seinem äußeren Erscheinungsbild, deshalb fand Mick ihn so interessant.

Der Dürre fing an zu schwitzen. Er hatte dem freundlichen Schüler noch immer nicht geantwortet. Mick zwinkerte mit seinen Augen und wendete seinen Blick gen Tafel. "Ich finde das Thema wirklich spannend", erklang ein Hauch von einer Stimme. Mick konnte sie kaum wahrnehmen. Mit einem Ruck hatte er seinen Oberkörper wieder zu Isaac gedreht. Seine langen Locken schlugen um seinen Kopf. "Wirklich Isaac? Ich komme kaum mit", sagte er. Nun war es der Angesprochene der Grinsen musste. Sein ganzer Körper bebte. Mick war ein durchaus ansehnlicher junger Mann und brachte Isaac durcheinander. Er sprach ungemein wenig, aber war nie unsicher, wenn er sich gegen seine Gewohnheit entschied, bei Mick jedoch fiel es ihm so viel schwerer. Seine Kehle war zugeschnürt, sein Herz pochte wild und sein Verstand war wie ausradiert.

"Wenn du willst, dann kann ich es dir erklären", murmelte er vorsichtig. Der Große strahlte. Er hatte es tatsächlich geschafft mit Isaac zu reden. "Liebend gern, sag mal, geht gleich heute? Ich hab heute frei, da würde es ganz gut passen", Micks Stimme klang genauso erfreut, wie sein Gesicht aussah. Der Blonde runzelte die Stirn und schaute überfordert auf sein Heft.

Eigentlich hätte er Zeit, aber selbst diese hatte er unterbewusst schon verplant. "Mick, bitte schauen Sie nach vorn! Der Unterricht hat angefangen", erfüllte die Stimme des molligen Lehrers die peinliche Stille. Ohne Widerworte befolgte der Angesprochene die Bitte und kehrte Isaac erneut den Rücken zu, ohne zu wissen, ob er den wunderlichen Jungen aus der letzten Reihe nachher sehen würde oder nicht.

Das nervtötende Geräusch der Schulklingel unterbrach die letzten Worte des Lehrers. Die Schüler sprangen beinahe synchron auf und quetschen ihre Bücher, Hefte und Mäppchen in ihre Taschen und gesellten sich zu ihren Freunden oder eilten geschwind aus dem stickigen Zimmer. Isaac tat keines von beidem. Er ließ sich Zeit und verstaute seine Sachen sorgfältig in seinem Rucksack und kontrollierte mehrmals, ob auch wirklich alles an seinem ihm zugeschriebenen Platz war. Er bemerkte nicht, dass zwei dunkle Augen jeden seiner Handgriffe genauestens verfolgt hatten. "Isaac, wir kommen noch zu spät, wenn du dir noch mehr Zeit lässt", drängelte eine durchdringliche Stimme. Der Blonde erschrak. Mick stand direkt vor ihm, er war fast einen Kopf größer. Blaue Augen blickten nervös nach oben, doch was sie sahen, passte nicht zu der Erwartung. Anstelle einer wütenden Fratze erblickten sie ein belustigtes Gesicht. Mick war fasziniert von dem ängstlichen Ausdruck des Kleineren. "Hey Newton, ich beiße nicht", sagte er, "noch nicht, jedenfalls", fügte er flüsternd hinzu. Die Mimik von Isaac veränderte sich von scheu zu verwirrt. "Mick, warum wartest du? Vermissen deine Freunde dich nicht?", fragte er zaghaft. Als Antwort ertönte ein spöttisches Lachen. "Nein, nicht wirklich", wieder ein Kichern, "ich habe genug Geschwister, ich brauche keine Freunde, na ja, hier zumindest nicht", Mick verzog seinen Mund zu einer betrübten Schnute. Während sie sich so unterhielten, trabten sie nebeneinander zum nächsten Raum.

Zum ersten Mal seit Langem kümmerte sich jemand um Isaac, brachte ihn teilweise auch zum Lachen, dabei hatte Mick seit ein paar Jahren versucht Kontakt mit dem  stillen Jungen aufzunehmen.
Mick hatte etwas Ehrliches, Natürliches, wenn er skurrile Geschichten von seinen Geschwistern erzählte. Doch plötzlich schwang seine Stimme um und er wurde ernst. "Nein, wirklich Newton, ich könnte Hilfe in Geschichte gebrauchen, das ist alles nicht logisch und ich habe buchstäblich keinen Plan, was Bismarck mit Napoleon zu tun hat! Das ist Jahrhunderte her", sagte er nüchtern. "Ich helfe dir ja gerne Mick"
"Aber?"
"Ich weiß nicht wann, ich muss erst schauen, ob wir Hausaufgaben machen müssen", erklärte der Dünne. Der Schwarzhaarige stöhnte leise. "Du bist nicht gerade spontan, oder? Komm schon Newton, deine Eltern freuen sich garantiert, wenn du einen Freund mitbringst", versuchte der Große seinen Gesprächspartner zu überreden. Isaac zog eine überlegte Schnute. "Warum nennst du mich Newton?", fragte er schließlich aus heiterem Himmel. Mick stöhnte mal wieder. "Na wegen Isaac Newton, dem brillanten Physiker oder warum haben deine Eltern dich so genannt?", stellte er eine Gegenfrage. "Keine Ahnung, ich habe nie gefragt"
"Na dann wirst du es noch heute erfahren, denn ich höchstpersönlich werde deine Eltern am Nachmittag interviewen", Isaac nickte nur, erst im Nachhinein wurde ihm klar, dass der Junge mit den lockigen Haaren sich bei ihm eingeladen hatte. In der Zwischenzeit waren sie im Kunstraum angekommen und wie selbstverständlich hatte sich Mick neben den Kleinen gesetzt.

Isaac hasste Kunst. Er konnte einfach nicht kontrollieren, wo sich der Stift wann hinbewegte. Mick an seiner Linken wiederum war total begeistert. Seine Hand fegte quasi über das Papier, es machte ihm sichtlich Spaß, er lächelte sogar. Isaac musterte ihn, in seinem Kopf entstand schon eine Beschreibung, die für einen Phantomzeichner geeignet war. Die langen schwarzen Haaren, fielen ihm regelmäßig in das schöne Gesicht. Seine Wangen waren leicht eingefallen und die braunen Augen unterlagen einem schwachen Schatten. Da er sich konzentrierte, zog er seine geschwungene Unterlippe zwischen die weißen Zähne und biss leicht drauf. Isaac war wie verzaubert, er hätte Mick die ganze Zeit über beobachten können, wenn sich nicht seine Kunstlehrerin vor ihm aufgebaut hätte. Die Frau mittleren Alters sah ihn vorwurfsvoll an. "Isaac, würden Sie sich bitte auf Ihre Zeichnung konzentrieren und nicht auf Ihren Nachbarn", maulte sie leise. "Mick warum sitzen Sie überhaupt dort?", fragte sie ebenso leise. Mick, der sie anscheinend nicht bemerkt hatte, schrak nun auf. Isaac sah ihn aus großen Augen an. Er fühlte sich, durch die Präsenz der extravagant gekleideten Frau, eingeschüchtert. Mick hingegen war immer noch sichtlich verwirrt. Doch bevor er sich rechtfertigen konnte, rief ein Mädchen von der anderen Seite nach der Pädagogin. Die Tische waren U-förmig aufgestellt, so sahen die Jungen nur noch den Rücken. Der Große schaute ihr noch verwundert hinterher, bis er Isaacs fesselnden Blick spürte. Er drehte seinen Kopf, sodass er in die eisblauen Augen des anderen Jungen blicken konnte. "Ich finde es toll, dass ich heute zu dir darf, weißt du, denn ich fand dich schon immer, ähm, interessanter, als die Restlichen", brabbelte er los. Der Angesprochene war zum wiederholten Male überfordert. Mick störte das keineswegs, er widmete seinem Bild keine Aufmerksamkeit mehr. "Habt ihr Essen zu Hause? Glaub mir, ich verhungere noch", wechselte er abrupt das Thema. Isaac musste grinsen, der Schwarzhaarige hatte ihn an ein kleines Kind erinnert, welches bei seiner Mutter nach Süßigkeiten bettelte. "Ja ja, wir haben durchaus Essen", flüsterte er beinahe. Das 'Kind' strahlte und richtete zufrieden seine Gedanken wieder auf das Bild, er versuchte es zumindest, denn der schüchterne Junge neben ihm, machte ihn fast wahnsinnig mit seiner ruhigen und verschlossenen Art. Es hatte Mick Monate gedauert bis dieser ihm auf leichte Fragen eine Antwort gab und nun durfte er mit ihm den Nachmittag verbringen. Er beschloss jetzt schon, nicht wieder freiwillig zu gehen und wenn es sich ergab würde er die ganze Nacht bleiben, wer weiß, was dann alles passieren könnte.

Als der Schultag zu Ende war, wartete Mick sehnlichst auf seine 'Lernverabredung'. Dieser kam, nicht ohne mehrere Selbstkontrollen im Spiegel, auch auf den Hof der Schule. Er tippelte mit leichten vorsichtigen Schritten auf seinen scheinbar neugewonnenen Freund zu. "Einmal Mitnehmen", rief dieser schon fröhlich aus einiger Entfernung. Isaac musste bei seinem Anblick Lachen. Mick, welcher um die 1,90 m war, stand eingewickelt in einer Jacke und Schal inmitten jüngerer Schüler und strahlte wie ein Honigkuchenpferd.

Die Zeit, die die Jungen brauchten um zu dem Mehrfamilienhaus zu gelangen war kurz, sie mussten nur in einen Bus, noch nicht mal umsteigen. Mick war absolut beeindruckt von dem modernen Gebäude, vor dem er stand. Sie hätten auf ein Haar die Haltestelle verpasst, weil Isaac sich zwanghaft umgesehen hatte, ob er auch ja nichts verloren hatte. Etwas, was Mick jetzt schon über den Anderen gelernt hatte.

Mitternachtsaffäre   (boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt