6 * Bittersüße Wahrheiten

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Gegen Abend saßen eine hochwüchsige, schlanke Frau, ein adipöser, nach Zigaretten stinkender Mann und ein junger Mann mit langen Locken auf dem abgenutzen Sofa in ihrer Wohnküche und sahen sich alle erwartungsvoll an. "Also Mick, dein Vater ist da. Ich bin jetzt wirklich gespannt, was genau du zu sagen hast", Krista hatte ihre Haare in einem praktischen Zopf nach hinten gebunden. Ein kläglicher Versuch streng zu wirken. Mick würde seine Mutter sowieso immer respektieren, selbst wenn sie mit einem rosa Tutu durch die Gegend spazieren würde. "Ja, ähm, das ist schon ein bisschen komplizierter und-", er wurde hastig von der mausgesichtigen Frau unterbrochen. "Du hast ein Mädel geschwängert! Deswegen arbeitest du auch ständig abends in der Tanke und ich dachte, wenigstens du wärst klug genug nicht so schlampig zu sein." Mick glotzte sie entsetzt an. "Was? Nein! Ich bekomme zu der Zeit einfach mehr Geld und ich habe keine Beziehung! Mädchen sind mir so ziemlich egal, ich bin nicht an ihnen interessiert, denn", er atmete tief durch, er musste einfach ehrlich sein, seine Eltern verdienten es, "ich bin schwul." Er richtete seinen Blick beschämt auf seinen Schoß, er musste seine Eltern nicht ansehen, er spürte ihre geschockten Blicke auf sich.

Plötzlich war es still. Keiner gab ein Geräusch von sich. Auch wenn alle Gedanken in Mick laut schrien, so waren sie für die beiden Erwachsenen nicht präsent. Der Vater räusperte sich. "Nun Mick", er brach ab. Sein Sohn fuhr sich durch die schulterlangen Haare. "Na los sag schon: oh mein Gott, mein Kind ist eine Schwuchtel, ein Arschficker und Schwanzlutscher, außerdem-"
"Mick hör auf", befahl seine Mutter. Tränen sammelten sich in seinen Augen. Er sah sie an. Ihr Gesicht war weder wütend noch traurig. "Also Baby, wie denkst du von uns? Wenn du auf Typen stehst, ja na und? Mach ich doch auch bloß. Zudem hast du vier Geschwister, die wahrscheinlich eine ganze Horde quirliger und nervtötender Enkelkinder produzieren werden, da ist es echt nicht wichtig, ob auch welche von dir dabei sind", sprach sie mit einer beruhigender Stimme. Sein Vater nickte zustimmend. "Deine Mutter hat vollkommen recht, du ersparst uns damit viele Sorgen, ein Kind weniger, von dem wir irgendwann zu hören bekommen, dass wir unerwartet Großeltern werden." Mick starrte sie verwundert an. "Ihr seid nicht böse?"
"Micki-baby, warum sollten wir das sein? Ist doch alles gut, im Gegenteil, ich bin froh jemanden zu haben, mit dem ich ungeniert andere Männer beurteilen kann, denn deine Schwestern haben noch keinen Geschmack." Der Mann stieß seiner Frau gespielt eifersüchtig in die Rippen. "Aber bedeutet das, dass du gestern in 'ner Schwulenbar warst, oder warum hast du dich weggeschlichen?", fragte sein Vater neugierig.

Mick schüttelte entgeistert seinen Kopf, sodass die Locken flogen. "Nein, nein, ich war bei Isaac", seine Mutter schaute ihren Ehemann fragend an. Sie konnte sich also auch nicht an ihn erinnern. "Du weißt schon der Kleene, Dürre, der so aussah, wie 'n Streichholz", half er ihr auf die Sprünge. Ihr Gesicht erhellte sich. "Ach so, der und hab ihr gevögelt?"
"Mama!"
"Na was denn? Du hast selbst gesagt, du bist 'n-"
"Jaja, ich weiß was ich gesagt habe, aber ich weiß noch nicht mal, ob Isaac schwul ist."
"Oh Baby, das ist er, glaub mir, Elton John ist verglichen mit dem das vorzeige Beispiel für einen Hetero-Mann." Mick konnte nicht anders, als zu lachen. Dann stand er auf und umarmte seine Eltern herzlichst.

Als er wieder losließ, setzte er sich zwischen sie. Seine Mutter griff instinktiv nach seiner Hand und streichelte sie. "Hattest du eigentlich schon 'nen Freund?"
"Ähh, kannst du dich an den Typen aus'm Urlaub erinnern?"
"Der, der die ganze Zeit nur mit 'ner Hose rum gerannt ist?"
"Jaja, genau der. Also wir hatten keine richtige Beziehung, aber wir waren in der Zeit zusammen", sein Vater schaute seinen Sohn fragwürdig an. "Mick, der war doch deutlich älter als du", sagte er entrüstet. "Nicht wirklich, er war 19."
"Und du damals 16!"
"Er war ja auch nicht mein erster...", fügte der Junge kleinlaut hinzu. Die große Frau zog ihre Hand blitzartig weg. Sie holte gespielt aus, als würde sie ihn gleich ohrfeigen. "Was bist du denn für ein Luder? Ich dachte, du bist eher der Typ für Liebe", meckerte sie. "Ich hab ihn auch geliebt. Aber er hat mich verlassen, weil so 'ne Vorstadtschlampe ihm den Kopf verdreht hat", Mick schüttelte sich bei dem Gedanken an seinen Ex. Das Gesicht seiner Mutter war ein wenig verzogen, scheinbar dachte sie über etwas nach. "Wie lange weißt du, dass du auf Männer stehst?"
"Seit ich vierzehn bin, damals ist auch Isaac zu uns in die Klasse gekommen." Jetzt war es sein Vater, der sein Gesicht verzog. "Mick, du warst aber nicht mit ihm zusammen, oder?"
"Nein, ich weiß nicht, ob ihr euch noch an Tristan erinnern könnt, er war mein Freund", erklärte Mick geduldig. "Na klar, das war doch auch so 'n Spargeltarzan und diese Pickelfresse hat dich für 'n Mädel verlassen?", murmelte der Vater. "Lucas, des is' nich' hilfreich. Du hattest 'ne Beziehung mit Tristan und wir haben nichts mitbekommen, auch nicht, als ihr euch getrennt habt?", wiederholte seine Frau nochmal das Gesagte. Mick nickte zustimmend. "Klingt viel schlimmer, wenn du es sagst. Ich dachte ihr seid dahinter gekommen, schließlich waren wir bis zum Anfang des Jahres noch zusammen", seine Mutter sah ihn mit großen Augen an. "Bitte was? Habt ihr dann auch schon gepoppt?"
"Also Krista jetzt bist du nicht hilfreich", entgegnete der füllige Mann. Sein Sohn winkte aber nur ab. "Ist schon okay Paps. Ja haben wir."
"Und der Junge aus'm Hotel? Lief mit dem ebenfalls was?" Mick rollte mit den braunen Augen. So langsam wurde ihm die Konversation doch unangenehm. "Na ja, Karten haben wir jedenfalls nicht gespielt", sagte er plump. Dann gab es eine Pause, in der niemand etwas von sich gab.

Plötzlich fing der Vater laut an zu lachen. Es war ein dröhnendes, intensives Lachen. Seine zusätzliche Masse bebte. Er hatte sich noch gar nicht richtig ein gekriegt, da musterten ihn auch schon vier Augen verständnislos. "Paps, ich hab euch gerade gebeichtet, dass ich schwul bin und auch schon Erfahrungen mit Jungs habe, ich denke nicht, dass das so ungemein lustig ist", fand Mick als erstes die Sprache wieder. Der Mann aber prustete nur wieder los. "Also Lucas, echt jetzt, manche heulen bei so 'nem Coming-Out, was ist denn nur falsch mit dir?"
"Nichts Krista, absolut nichts. Mick ist unser einziges Kind, welches kompetent genug wäre, um eine Familie zu gründen und tatsächlich Geld zu verdienen. Und er ist schwul. Nichts mit Kindern, glaub mir Micki, du kannst das versuchen, des wird nix. Mal ehrlich Hase, Jim ist viel zu narzisstisch und faul sich um irgendwen anders als sich selbst zu kümmern. David ist für sein Alter unterdurchschnittlich vernünftig und selbstständig. Außerdem sind die Zwillinge nicht wirklich die hellsten Lichter unter der Sonne. Mick ist der einzige, der sein Abi bekommen kann und wäre der einzige, der mit 24 keine 5 Kinder haben würde. Aber er ist vom anderen Ufer, ein warmer Bruder!"

Nach kurzem Überlegen fing auch die schlanke Frau an zu lachen und schließlich stimmte auch ihr Sohn in das glückliche Gelächter ein. Die drei waren so laut, dass sich langsam eine Tür im Flur öffnete. Heraus trat Amy. Als sie sah, wie ihr größter Bruder und ihre Eltern sich die Bäuche haltend auf dem Sofa lagen, rannte sie vergnügt zu ihnen. Auch wenn sie den Grund für die ausgelassene Stimmung nicht kannte, so kicherte sie trotzdem los. Janis folgte ihr, als sie das helle Gegacker ihrer Schwester vernahm. "Süße komm her", rief Mick Janis. Diese ließ sich nicht zweimal bitten und tippelte, so schnell es ihre kurzen Beinchen ermöglichten, zu dem geblümten Sofa und sprang auf Micks Schoß. Das Haus implodierte förmlich, sie waren so laut und fröhlich, dass sogar beide Vollzeitteenies aus ihren Höhlen krochen und nachsahen, wie es ihrer Familie ging.

Die schlaksigen Jungen standen entgeistert vor dem Sofa. Jims Haare waren mühsam zurückgegelt, während David eher der natürlichen Fettigkeit vertraute. Dennoch hatten sie, wie die anderen, schwarze Locken. Ihre Gesichter waren von Skepsis belegt, denn die Situation vor ihnen war für sie skurril. Sie sahen, wie ihr Vater, bekleidet mit einem dreckigen Unterhemd und einer ausgeleierten Jogginghose, neben ihrem ältesten Bruder zusammen mit der kleinen Janis auf dem Schoß sich fast kugelte vor Lachen, während die Mutter alle Mühe hatte, Amy nicht zu fallen lassen, da auch die beiden sich schüttelten.

"Was ist denn los?", fand Jim zu erst die Sprache wieder. David nickte zustimmend. Mick sah die Jungen mit einer Glückseligkeit an, wie sie sie noch nie gesehen hatten. Der Vater fing sich am schnellsten. "Mick, darf ich es ihnen sagen?"
"Tu dir keinen Zwang an, Paps." Der junge Mann drückte Janis an seinen Bauch, damit sie sich beruhigte. Auch die Mutter hielt Amy fest, die Zwillinge sollten ebenfalls den Grund für die Freude erfahren. Einen letzten Grunzer gab der übergewichtige Mann von sich, dann wandte er sich seinen zwei jüngeren Söhnen zu.

"Wisst ihr, Mick ist andersherum", Verwirrung zeichnete die Jungen aus. "Na ja, er spielt für's eigene Team", auch jetzt verstanden sie es nicht. Mick unterdrückte ein süffisantes Grinsen. Der Vater rollte mit den Augen. "Jungs, euer Bruder ist 'ne Schwuchtel", sagte er amüsiert. Entsetzt blickten die Brüder auf das überfüllte Sofa. Mick konnte nicht mehr, er brach wieder in schallendes Gelächter aus. "Papa, was ist 'ne Schwuchtel?", piepste da Amy. "Also Liebling, das sagt man eigentlich nicht. Aber deine Brüder sind sonst zu doof. Micki ist schwul, bedeutet, dass er keine Mädchen mag, sondern andere Jungen."
"Dann bin ich auch schwul, weil ich mag auch keine Mädchen!"
"Na ja, das werden wir noch sehen, aber schwul, das geht nur bei Jungs."
Jim und David waren noch immer fassungslos und völlig überrascht. "Hä?", ertönte es vom Jüngeren. "Boah, Alter, David bist du hohl", meckerte sein Bruder. "Mick fickt Jungs", fuhr Jim fort, "du weißt schon, das sind Menschen mit 'nem-"
"Ja, Jim, David weiß was Jungs sind", unterbrach Mick ihn. Dafür waren die Zwillinge doch noch zu jung. "Was ist 'ficken'?", fragte Janis prompt. Mick hielt sich eine Hand vor den Mund, um ein Grinsen zu verbergen. "Wisst ihr, ich muss noch zur Arbeit, Nachtschicht", informierte er seiner Familie. Hob Janis vom Schoß und klopfte seinem Vater auf's Knie. "Ihr werdet das schon kinderfreundlich erklären, ne?", er stand auf und zog sich seine Sachen an. Währenddessen hörte er die Stimme seiner Mutter: "Also 'ficken', das ist ein schlimmes Wort..." Mehr bekam er nicht mit, da er aus der Hütte verschwand und zur Tanke lief.

Mitternachtsaffäre   (boyxboy)Unde poveștirile trăiesc. Descoperă acum