Kapitel 12

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Der Regen peitschte auf die Windschutzscheibe, die Scheibenwischer bewegten sich auf maximaler Geschwindigkeit von links nach rechts, von rechts nach links. Wir verließen vor wenigen Minuten das Parkhaus des Krankenhauses und befanden uns nun in Nick's Wagen auf der linken Spur des Highway's. Der moderne SUV in schwarzer Farbe ist sehr geräumig und am Rückspiegel hing eine Kette des Schutzpatronen Judas Thaddäus. Er ist bekannt als Heiliger für hoffnungslose Fälle. Ich weiß das so genau, weil mein Bruder diese Kette als Kind schon um den Hals trug. Er wollte sie nie abnehmen, nicht beim Schwimm - oder Sportunterricht konnte auch nur ein einziger der Lehrer ihn da zubringen sie auszuziehen. Die ersten Male straften sie ihn damit, dass er die Stunden auf der Sitzbank verbringen musste und nicht mit teilnehmen durfte, aber nach ein paar Wochen ließen sie es durchgehen. einen Sturkopf nannte ihn einer der älteren Lehrer mit einem Lächeln, daran erinnere ich mich ebenso noch gut. Diese Kette mit dem Anhänger bakam Nick von unserem Großvater, der ihm sehr viel bedeutete und zu dem er eine noch bessere Bindung hatte, als ich. Die Ferien bei unseren Großeltern auf dem Land waren immer etwas ganz Besonderes für uns. Die Landluft tat unseren von Abgas gefüllten Lungen der vielen Straßen einer Großstadt gut und wir fühlten uns frei dort wie nirgendwo sonst. Wir halfen Opa bei all den Tätigkeiten, die anfielen auf einem großen Hof und das erste mal Auto gefahren sind wir auf den alten Landstraßen. Jeder der wenigen Bewohner des Dorfes kannte uns, die Kinder in unserem Alter fragten uns ständig aus, wie das Leben so ist, da von wo wir herkamen und baten uns sie mal mitzunehmen, sie wären noch nie außerhalb gewesen. Doch das ging leider nie, Vater hatte es nie erlaubt, dass wir Jemanden von unseren Freunden mal für ein paar Tage zu Hause aufnahmen. Meine Gedanken verschwanden, weil wir plötzlich langsamer wurden. 'Ich muss hier tanken, möchtest Du einen Kaffee oder Tee?' fragte Nick mich. Nach einem kurzen Zögern fragte ich ihn, ob er mir eine Flasche Vodka kaufen würde, mit ein paar Energydrink-Dosen. Lächelnd nickte mein Bruder, stieg aus dem Wagen und füllte es mit Benzin aus der Zapfsäule. Danach zündete er sich eine Zigarette an und rauchte sie in aller Ruhe vor dem kleinen Tankstellenhäuschen. Das mochte ich immer an Nick. Er hatte immer für alle Verständnis, fragte nicht neugierig nach, wie er es hätte gerade eben tun können um in Erfahrung zu bringen, wieso ich gerade jetzt Lust habe auf Alkohol. Wir verstanden uns so gut wie ohne Worte. Das haben wir zu Hause lernen müssen, als Vater uns Stunden befahl ohne ein Wort zu sagen am Tisch zu sitzen, oder uns zu irgendeiner Arbeit verdonnerte, bei der er uns untersagte auch nur ein Wort zu sagen. Die Tür auf der Fahrerseite ging auf und Nick setzte sich durchnässt ins Auto. Er reichte die Papiertüte in meine Hände und griff nach hinten zur Rückbank nach einem Hoodie. Er zog sein Hemd aus und streifte den Pullover über sein weißes T-Shirt. 'Lass uns weiter fahren, Dean.' Nickend öffnete ich die Papiertüte. Er hatte sogar an einen Pappbecher gedacht und es gab Red Bull. Schnell machte ich mir eine 50/50 Mische und trank schnell aus, danach die zweite und dritte bis sich endlich die angenehme Entspannung in meinem Kopf bemerkbar machte. Zugleich lockerten sich auch meine Schultern und ich begann zu reden. Ich fragte meinen Bruder was genau passiert ist, dass er mir alles erzählen solle aber er vertröstete mich. 'Wenn wir ankommen, werden wir in aller Ruhe reden, das verspreche ich Dir. Willst Du etwas Musik hören? Was hörst Du gerne?' fragte er mich ruhig. 'Deutschrap, da gibt es eine Playlist auf Spotify, kannst Du sie öffnen?' Er gab mir sein Handy und ich entsperrte es. Als Hintergrundbild hatte er einfach eine Straße im Herbst ausgewählt. Das passte zu ihm. Er hatte kein Spiel installiert, nur das Nötigste. WhatsApp und eine Wetterapp und zum Glück auch Spotify. Ich suchte nach dem Titel 'Hannoveraner' von Anonym und drehte die Lautstärke auf. Dieses Lied habe ich bei meinem vorletzten Besuch in Warschau in Dauerschleife gehört und es erinnert mich sofort an die Zeit. Nick nickte zum Beat und seine Finger tippten zum Takt auf dem Lenkrad. Der regen wurde noch stärker, ich bin froh nicht fahren zu müssen. Ich hasste es nachts im Regen zu fahren, meine Konzentration ließ nicht zu eine solche Strecke bei diesen Bedingungen zu überleben. 'Ich trinke wegen meiner Schmerzen, Nick. Ich habe starke Schmerzen.' Er schaute mich kurz an, lenkte seinen Blick dann wieder auf die Straße und sagte: 'Ich weiß, du musst mir das nicht erklären. Es ist in Ordnung.' Mit einem Kopfschütteln unterbrach ich ihn: 'Nein, also ja, ich weiß aber ich möchte es dir erklären, ich will mit Dir reden. Du hast mir immer zugehört, mich verstanden.' Ich erzählte ihm von meinem Unfall, den vielen Operationen und wie die Jahre an mir vorbeigingen. Ich erzählte, wie ich gerade so mein Abitur schaffte, dann an einer Journalistenschule meinen Abschluss machte, dass ich für die Gebühren einen großen Kredit aufnehmen musste, von meiner Vision diesen einen Artikel zu schreiben, mit dem sich wenigstens diese finanziellen Sorgen in Luft auflösen würden. Ich stockte, als ich merkte, dass genau dieser Artikel, an dem ich momentan arbeite, mein Durchbruch sein sollte. Schnell füllte ich meinen Becher nochmal nach und leerte ihn in einem. Ich sitze hier im Auto neben dem Serienkiller, über den ich einen Artikel schreiben soll, mit dem ich vielleicht sogar der Polizei helfen wollte. Aber das Gefühl in mir, welches überwiegt, ist dass ich hier im Auto neben meinem Bruder sitze. Es würde sich alles erklären, alles wird einen Sinn ergeben. Nun habe ich das Gefühl, dass der letzte Schluck mich ausknocken wird, ich muss mich konzentrieren, ich muss wach bleiben. 'Nick, halt bitte kurz an, ich brauche etwas frische Luft.'
Wir wurden langsamer und der Geländewagen kam auf dem kiesigen Seitenstreifen zum stehen. Ich stieg aus, meine Beine wackelten, ich hielt mich an der Türe fest. Die frische Luft strömt durch meine Lunge, mein Kopf fühlt sich wieder klarer an. Nun stieg auch Nick aus, holte seine Zigarettenschachtel aus der Jeans, hielt sie mir hin. Dankend lehnte ich ab. Er stellte sich neben mich. 'Ich bin froh darüber, dass wir wieder vereint sind, Dean.'

Caught in glassWhere stories live. Discover now